Gräser
Sten Woelm
Unzählbar, stehen sie in meiner Landschaft und sind unter dem ewigen Wind die wiegenden Kinder der Weite. Jung, älter, erfahren, ergraut und verblaßt. Immer süchtig nach Regen und Sonne, schauen sie den Himmel an, neigen ihre Spitzen vor dem Wolkendunst des nahen Meeres oder lechzen mit einem verhaltenen Zittern in das Blau. Gräser, klein, winzig, dürftig manchmal, irgendwo im Sand der Düne. Dort sind sie am einsamsten. Dort kann ich mit ihnen reden. Scheu geht mein Schritt um sie herum, während sie sonst achtlos zertreten werden. Aber wo sie wie verlorene Kinder im Sande stehen, nur Himmel um sich, da werde ich schon gerne vorsichtig. Nicht aus Pietät, oh, nein, hier kann ich sie betrachten und neben ihnen im Sande liegen, stundenlang, deshalb nehme ich so gerne Rücksicht. Wo jeder einzelne Halm seinen Schatten wirft, einen einsamen verlorenen Schatten, der im Sande lebt, beredt, einen großen, schlichten Bogen wirft, in sanfter Geschmeidigkeit. ? Schatten ? Unangreifbares, zweite verwunschene Seele aus dem Zauber dessen, was wir alle als Licht zum Leben brauchen. Und dabei so fein, so zart, so vom Winde bewegt, und ich singe leise:
Gräser, sanfte Bogen,
wie Musik aus Wind und Sonne ?
einer Erde überzogen;
lichtes, duftdurchströmtes Kleid
der Welt.
Man könnte sie malen und fände kein Ende, die unzählbaren Formen, das Wiegen und Neigen zu offenbaren. Und schließlich die Musik darin, nein, Musik kann man doch nicht malen. Aber etwas anderes ? mit den Händen darüber hinfahren, wie nachts, über das Haar eine schlafenden Frau, die ganz still ist und an den geschlossenen Lidern lange Wimpernhaare zitternd durch die Nacht trägt. ? Doch die Gräser sind kühl und wenn man sie anfaßt, nicht so weich wie Frauenhaar. Ein Käfer kribbelt um das Gewirr einer grünen Blütendolde. Sein Rücken glänzt, als sei er durch Goldstaub gewandert. Dann fliegt er davon, durch einen lichten Wald von Gräsern. Einmal habe ich ein Lichtbild von ihnen gemacht. Darauf sind sie nun festgehalten, groß und mit der sinkenden Sonne. Es können tausend andere Gräser sein und sind doch meine Gräser. Später hingen sie über meinem Schreibtisch, daheim und wenn ich einmal dorthin komme, wo immer wieder daheim ist, dann begrüße ich sie. Sie leben, wenn ich sie lange anschaue. Scharf, spitz, neigend, wehend und weich. Ich höre Musik eines hohen Sommers, mitten in der Nacht, wenn die Sterne aufgingen über dunklen Küssen.Wind fuhr wie eine gewährende Seligkeit durch das singende Gewirr, den Hang hinauf dem Walde zu, fern, eine einfache Melodie und verschwand. Dann bin ich oft zu demselben Hang gegangen, ließ den Wald im Rücken, sah in das Tal hinunter, wo der Bach fließt mit silbernem Schimmern und sah meine Gräser an, die weiche, wehende Flut unter dem großen Himmel. Wenn einmal nachts die Liebenden in ihnen geruht, eine lange, zärtliche Nacht, am Morgen atmeten sie wieder, ein Halm nach dem anderen, rücksichtsvoll die Spuren verbergend und verwischend. Vielleicht war es auch, daß die Sonne immer alle Schwere löst, aus den Menschen wie aus den Gräsern, weil in beiden die Musik der Ewigkeit ist.
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