Der Wettkampf

Elmar Woelm


Es war in Tokio, in den ersten Jahren nach dem verlorenen Kriege, dieser verheerenden Niederlage, die den Japanern all ihr Selbstbewusstsein, allen Stolz vergangener Jahrhunderte genommen hatte. Es sollte der erste große nationale Wettkampf im Kendo, dem japanischen Schwertkampf nach dem Krieg stattfinden. Bushido, der Ehrenkodex der Samurai, der sich in die Lebensbereiche aller Japaner eingeschlichen hatte und in weiten Teilen zum festen Bestandteil ihres Denkens und ihrer Kultur geworden war, erwies sich trotz aller Demütigungen als ungebrochen, ja schien sogar gerade infolge des Erlebten zu neuem Erblühen zu erwachen. Bushido - der Geist des Kriegers! Bis heute spiegelt sich die Philosophie im gesamten Leben dieser Nation wider, ist mit eine der wesentlichen Erklärungen für den bahnbrechenden wirtschaftlichen Erfolg der letzten Jahrzehnte. Kendo, der Weg des Schwertes, hat eine uralte Tradition und ist im Laufe der Jahrhunderte vielfachen Veränderungen unterworfen gewesen. Diente er ursprünglich der Selbstverteidigung und der Führung des Schwertes im Kriege, so entwickelte sich diese Schwertkunst besonders unter dem Einfluss des Zen-Buddhismus bald zu einer Methode der Selbstentfaltung und Selbsterkenntnis. Das Schwert wurde zur Seele des Samurai und war oft sein einziger Besitz.

Wie dem auch sei, ganz Japan war in Aufregung wegen des großen Wettkampfes, in dem sich die besten Schwertkämpfer der Nation messen würden. Schon seit Wochen sprach niemand mehr von etwas anderem. Das Taikai, der große Wettkampf! Der Geist des Kriegers wurde selbst in der unbedeutensten japanischen Seele geweckt, ließ die alten Geschichten wieder aufleben, von den Helden, von denen die Eltern seit altersher ihren Kindern erzählten. Von dem großen Meister Kagehisa Ittosai Ito, der die „Ein-Schwert-Schule“ begründete, von Iko Aisu, der sich im Alter zur Kontemplation und Meditation in eine Höhle zurückzog und daraus eine neue Fechtschule begründete, oder von dem legendären Miyamoto Musashi, Begründer der „Zwei-Himmel-Schule“, der innerhalb von wenigen Jahren in über sechzig Duellen auf Leben und Tod nicht besiegt wurde, der sich bald ebenfalls in die Einsamkeit zurückzog, um durch Meditation ganz und gar in die Tiefe des Schwert-Weges eindringen zu können.


Endlich war der große Tag gekommen. Selbst als die Halle schon übervoll war, drängten sich die Menschen noch am Eingang, bis weit auf die Straße hinaus. Der Wettkampf begann. Paar für Paar traten die Kämpfer auf der Kampffläche an, um sich in der Geschicklichkeit und Vervollkommnung ihrer Kunst zu messen. Gnadenlos knallten die Shinai - Wettkampf- und Übungsschwerter aus Bambusstäben - gegeneinander und auf die Rüstung des Gegners. Laute Schreie begleiteten die Schläge: „Kote -, Men -, Do ---“, mit denen die Kämpfer ihre Angriffspunkte herausschrieen und damit die machtvolle Kraft ihres Atems einsetzten. Kokyo - die Kraft des Atems; - ohne sie bleibt jede Technik wirkungslos, und es gehört zu den Grundübungen jedes Kampfkünstlers, die Kraft dieser Lebensenergie zu stärken und gezielt einzusetzen. Oft scheint es tatsächlich ein Kampf auf Leben und Tod zu sein, wie in alten Zeiten, als das Leben des Samurai ganz und gar von seinem Können abhing. - Fast kann man das Kriegsgeschrei hören, das Waffengeklirr und das Stöhnen der Verwundeten. -

Die Kämpfer geben alles, was sie haben - sonst wären sie nicht so weit gekommen, hätten sich nie zu diesem Taikai qualifizieren können! Trotz der Räucherstäbchen riecht die Halle bald nach Schweiß, und manchmal auch nach Angst. Gelegentlich gibt es Beulen und blaue Flecke, einmal fließt sogar etwas Blut. Aber niemand achtet darauf, auch die Kämpfer nicht. Bushido - der Geist des Kriegers ist erwacht! ...


Zwei alte Männer betreten die Kampffläche, das "Shinai" an ihrer linken Seite. Ruhigen Schrittes gehen sie aufeinander zu, verneigen sich vor der „Kamiza“, dem „Sitz der Götter“, machen eine kleine Wendung, um sich anschließend voreinander zu verneigen, bezeugen so den Respekt vor den Göttern, ja, vor dem ganzen Universum und vor dem Gegner. Während die beiden Senioren die Kampfstellung einnehmen, ist es ganz still im Raum geworden. Kein Ton ist zu hören. Die Luft ist energiegeladen und niemand scheint einen Atemzug zu wagen. Die beiden Alten stehen sich gegenüber, die Spitzen ihrer Schwerter gekreuzt, völlig gelassen. Fast gleichgültig könnte man meinen und doch mit einer Wachsamkeit, die sich nur dem erfahrenen Betrachter offenbart. Keine Bewegung, kein Laut! Die Augen sind aufeinander gerichtet, unbeweglich scheinen sie in die Ferne zu schauen, den Gegner gar nicht zu bemerken. Die Spannung steigt. Unglaubliche Stille. Gleich, gleich muss es soweit sein - der Kampf der Drachen! Wer wird den ersten Schlag tun, wer gewinnen, wer verlieren? Nichts rührt sich, nicht die kleinste Bewegung. 

So stehen sie da, als wäre die Zeit stehen geblieben. Zwei alte Männer im Wettstreit - zwei der angesehensten Meister des Schwertes! Völlig uninteressiert scheinen sie zu sein. Nichts Besonderes, wenn man sie so sieht - nur zwei alte Männer mit ihrem Spielzeug in der Hand. Haben sie ihren Mut verloren, ihren Kampfgeist? Was ist los? Die Zuschauer werden ungeduldig. Und noch immer geschieht scheinbar nichts. Endlose Zeit scheint zu verstreichen. Und die beiden? Sie sind ganz wach, ganz da! Jeder von ihnen weiß genau, wer sich als erster bewegt, wer als erster seine Aufmerksamkeit verliert, wird dem anderen eine Lücke bieten und unweigerlich niedergeschlagen werden! 

„Hikiwake“, unterbricht endlich die Stimme des Schiedsrichters die Stille - „unentschieden“. Wo die Jüngeren all ihre Körperkraft und Geschicklichkeit aufwandten, begnügten sich diese alten Meister mit einem Kampf der Augen, einem Kampf des Geistes.

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