Von Vogelscheuchen...

Elmar Woelm


Gebannt sitzen wir da und lauschen seinen Worten, lassen uns in eine fantastische Welt entführen; in alte Zeiten, die für uns bald genauso wirklich werden, wie sie es für ihn ganz selbstverständlich sind - denn er war dabei, damals ...


Dusty selbst bezeichnet sich als Brown Witch, einen erdverbundenen Hexer und Magier, der sich an 22 vorherige Leben erinnert, zurück bis zu jener Zeit, als das Eis schmolz und England, seine Heimat, eine Insel wurde. Er ist klein, wie alle aus seinem alten Stamm, dem Elfin-Volk. Seine Haare sind schneeweiß, ebenso wie der Schnurbart den er eigenwillig nach oben gezwirbelt trägt und der - und das ist seine Absicht - an die Hauer eines Wildschweins erinnert, dem Totemtier seiner Familie. Er wirkt wie ein rüstiger Rentner, überhaupt nicht aufdringlich, eher bescheiden und zurückhaltend, fast ein wenig durchscheinend. Er ist genau 27 Jahre jünger als sein Vater und sein Sohn wiederum 27 Jahre jünger als er. Das hat Tradition! Siebenundzwanzig, so erklärt er uns, ist drei mal neun, und die neun steht numerologisch sowohl für Dusty, als auch für Miller. Ein Zufall? Nein, für Dusty ganz sicher nicht.


Unser Stamm lebte vorwiegend von Wildschweinen, erzählt er uns. Wir trieben sie gezielt zu reichen Mastplätzen und versuchten sie so an unsere Nähe zu binden. Die Schweine blieben zwar wild, aber wir hegten und pflegten sie so gut wir konnten. Es gab bei ihnen immer eine Muttersau, der alle anderen folgten. Sie galt uns als heilig und es war sehr wichtig, einen guten Kontakt zu diesem Tier zu bekommen. Die Aufgabe sich darum zu kümmern, oblag denen, die das besonders gut konnten. Wir nannten diese Leute Dusties - Schweinehüter. Im Laufe der Zeit entwickelten sich die Dusties zu einer Art Stammesschamanen. Sie lernten viel durch den intensiven Umgang mit den Schweinen und der Natur, besonders den Bäumen, mit denen sie in ständigem Austausch standen. So war es zum Beispiel sehr praktisch, als wir entdeckten, dass wir mit den Bäumen reden konnten, meint Dusty. Es war nicht immer leicht, die Schweine im dichten Wald im Auge zu behalten und jederzeit wiederzufinden. Das Gespräch mit den Bäumen erleichterte Vieles. Wir konnten einfach fragen: Heh! Habt ihr die Schweine gesehen? Und die Bäume antworteten dann: Da! Dort hinten, siehst du sie denn nicht, du Trottel? Außerdem ergab es sich, dass die Bäume uns auf vielfältige andere Weise behilflich waren, wenn wir ihre Freundschaft gewannen. Eine der besten Entdeckungen die wir machten, war das Lebensholz. Das ist Holz, das uns die Dryade, das Wesen des Baumes schenkt um es immer bei uns tragen zu können. Es enthält einen Klon des Baumwesens und, wie viele von euch bereits selbst erfahren haben, kann man eine sehr fruchtbare Freundschaft zu ihnen aufbauen. Die Zauberstäbe, wie sie seit langem mit Zauberern und Magiern in Verbindung gebracht werden, haben hier ihren Ursprung – die meisten Lebensholzwerkzeuge der Elfin-Kunst sind eine Art Zauberstäbe ...

Ja, wir haben sie bereits bewundert, die vielfältigen Formen an geschnitzten Hölzern, die Dusty als kleine Ausstellung zurechtgelegt hat: Kuriose Spazierstöcke, Messer und Schwerter, schlicht oder auch mit bizarren Formen, märchenhafte Stöckchen, verwachsen und beschnitten, korkenzieherartig gewunden, viele von ihnen auf einer Seite zugespitzt um die Energie zu bündeln – ich habe nie gewusst, dass Zauberstäbe so schön sein können ...

Wir Dusties fanden, dass es ein ganz angenehmes Leben war und hielten unser Wissen geheim, fährt Dusty fort. Wir gaben es nur an unsere eigenen Kinder weiter. So wurde im Laufe der Jahrhunderte diese Aufgabe zu einem von Generation zu Generation weitervererbten Beruf. Alle bei uns heißen übrigens seit langem Dusty - Männer und Frauen. Das bringt manchmal ein ziemliches Durcheinander, aber so ist das halt bei uns Dusties ... Stellt euch vor, wir sitzen mit unserer ganzen Familie in einem Pub. Plötzlich ruft jemand: Hey, Dusty! und alle Köpfe fahren gleichzeitig herum ...


Wusstet ihr, dass Bäume eigentlich auf dem Kopf stehen? – Oder esst ihr etwa mit den Füßen? Deshalb ist auch ihr Bewusstsein ungefähr auf Höhe der Wurzelanläufe. Wenn ihr zu einem Baum sprechen wollt, ist es also besser euch dort hinzuwenden, als zu seiner Krone. Manche Bäume laden durch die Ausformung ihrer Wurzelansätze oder tiefer Äste regelrecht ein sich hinzusetzen und zu verweilen – achtet einmal darauf und nehmt ihre Einladung an!

Bäume sind übrigens Gruppenwesen. Oft gehören zu einer Dryade eine ganze Reihe von Bäumen, manchmal sogar alle Bäume eines Waldes! Wenn ihr dann zu einem Baum sprecht oder ihn berührt, sprecht ihr tatsächlich auch zu allen anderen Bäumen oder berührt sie. In unseren heutigen modernen Wäldern ist das oft ganz durcheinander geraten. Durch die Pflanzung von Bäumen aus Samenplantagen und Baumschulen ist meist jeder Baum ein einzelnes Individuum. Es herrscht dann oft ein richtiges Gedränge im Wald, das es in ursrpünglichen Wäldern nicht gab – man kann das fühlen ...

Viele dieser Dinge fanden wir heraus, weil wir so intensiv mit und im Wald lebten ...

Dusty schweigt eine Zeitlang und wir sehen ihm an, dass seine Gedanken wieder zurück in die Vergangenheit ziehen.


Wisst ihr, warum Elfen und andere Waldgeister oft mit so großen Ohren dargestellt werden?, fragt er uns. Ein Teil von ihm ist in die Gegenwart zurückgekehrt und er schaut uns an. Als die Kelten in unser Land kamen, galten wir als Menschen zweiter Klasse, oder sogar als Tiere. Wir hatten keinen Kontakt zu den Eindringlingen, die uns zu töten suchten und lebten tief in den Wäldern, in Erdhäusern, die von ferne wie kleine Hügel aussahen. Wir hatten keine Möglichkeit, uns die Haare zu schneiden und die wuchsen daher sehr lang. Da unsere Haare noch dazu extrem dünn sind, waren sie im dichten Wald schnell hinderlich und wir setzten uns hohe Mützen auf, unter denen wir die Haare zusammenbanden. - Hier liegt übrigens auch der Ursprung der hohen spitzen Zauberhüte.

Während er erzählt, reißt er sich ein Haar aus und reicht es herum. Es ist wirklich sehr dünn und ehe ich mich versehe, habe ich es verloren.

Nach einem kurzen Blick auf mein Haar ziehen sich die Frisöre immer schnell zurück um tuschelnd auszulosen, wer es schneiden soll, scherzt er, es ist so dünn, das es immer aus der Schere gleitet und es scheint eine rechte Qual zu sein es zu schneiden. - Wie dem auch sei, unsere Mützen reichten weit über die Ohren und wurden unter dem Kinn zusammengebunden. Bei den Ohren hatten wir zwar kleine Löcher angebracht, aber die waren für eine flüsternde Unterhaltung nicht groß genug. Daher klappten wir die Mützen wenn es nötig war hoch und die Zipfel standen dann zu beiden Seiten des Kopfes ab. Wenn uns dann die Kelten gelegentlich aus der Ferne beobachteten, glaubten sie, wir hätten so große Ohren und ihr wisst ja, was so im Laufe der Zeit mit Gerüchten und Halbwahrheiten passiert ...

Auch bei den Gartenzwergen findet ihr die Zipfelmützen - allerdings ohne die großen Ohren. Diese Legenden gehen im wesentlichen auf unser Volk zurück. Wir waren immer sehr klein; ihr seht es an mir und ich bin schon sehr groß in meiner Familie! Na, und in den Erzählungen wurden wir halt immer kleiner - besonders in der Zeit, da die Brüder Grimm, Andersen und andere ihre Märchen aufschrieben.

Schaut euch einmal die Gartenzwerge an; sie haben immer einen ausgeprägten Bart, der aber die Backen und die Oberlippe frei lässt. Wir lebten mit den Schweinen und von den Schweinen und strebten in vieler Hinsicht danach, ihnen möglichst ähnlich zu werden. Unsere Schweine, die hatten auch keinen Bart und meistens war ihr Gesicht überhaupt ganz kahl. Daher zupften wir, sobald uns die ersten Barthaare sprießen, diese aus. Das ging auf den Backen ganz gut, doch am Hals und unter dem Kinn mussten wir passen. Die Haut ist hier sehr weich und empfindlich und es tat zu weh, die Prozedur auch hier konsequent durchzuführen. So trugen wir unter dem Kinn und unterhalb der Unterkiefer einen dichten Bart, während das Gesicht kahl blieb ...


Es ringen sich heute jede Menge Legenden um uns, die im Ursprung meistens einen wahren Kern haben. Oft erzählte man sich, wir könnten uns unsichtbar machen. Das ist natürlich Unsinn. Doch unsere Kleidung war aus naturgefärbten Materialien gemacht, die weniger leuchtend waren, als die all der Eindringlinge. Außerdem kannten wir keine Seife und nur mit Wasser lassen sich weder Kleidung noch Haut richtig sauber kriegen. Wir scheuten uns nicht vor diesem äußerlichen Schmutz und das trug uns den Namen „the filthy people“ (die dreckigen Leute) ein. Im Keltischen bedeutet fairy übrigens das gleiche wie filthy, was zu dem Namen „Fairy Folk“ (Elfenvolk) führte. 

Unser ständiger Aufenthalt im Wald und in der Erde tat sein Übriges - wir hatten einfach eine perfekte Tarnfarbe! Außerdem hatten wir im Laufe der Zeit eine Menge Tricks entwickelt. Wir wussten zum Beispiel, dass man im Wald nicht gesehen wird, wenn man ganz unbeweglich ist. Noch heute machen mein Sohn und ich uns oft einen Spaß daraus. Wenn wir bei der Arbeit sind, kann es vorkommen, dass wir plötzlich die Stimmen von Menschen hören. Es ist komisch, die meisten Menschen scheint ein unwiderstehlicher Drang zu überkommen, ohne Ende drauflos zu quasseln sobald sie im Wald sind. Wenn wir hören, dass sich jemand nähert, „frieren“ wir sofort ein und bewegen uns nicht mehr. Dusty unterstreicht seine Worte indem er für einen Augenblick tatsächlich völlig bewegungslos verharrt. Dann fährt er fort: Wenn die Leute direkt bei uns sind, grüßen wir sie laut „Guten Morgen“ und sie fahren dann erschrocken zusammen, da sie uns einfach nicht bemerkt haben ... Er lacht verschmitzt wie ein kleiner Junge und die Enden seines Schnurbartes zucken. Es ist ihm anzusehen, wieviel Vergnügen ihm dieser Spaß bereitet.

Wegen der langen Zeit, in der es für uns so wichtig war, möglichst unentdeckt zu bleiben, ist es heute oft schwierig für uns, an die Öffentlichkeit zu treten. Wir werden oft weiterhin einfach übersehen. Wir haben das Unsichtbarsein zu sehr verinnerlicht und es braucht seine Zeit nun das Gegenteil zu erreichen ...

Oft glaubte man auch, wir hätten magische Mäntel, mit denen wir uns unsichtbar machen könnten. Das war ein Gerücht, das uns nur Recht war und das wir nach Kräften unterstützten. Trotz aller Vorsicht kam es gelegentlich vor, dass wir plötzlich von Feinden ergriffen wurden – außer den Kelten haben unser Land auch die Römer und die Lüneburger heimgesucht. Diese verlangten dann gerne, die Herausgabe des Mantels, der unsichtbar mache. Dann ... gut ... wir drucksten ein wenig herum und zierten uns mit der Wahrheit herauszurücken - Dusties Lippen werden zu schmalen Schlitzen, eine Hand streicht scheinbar verlegen die andere und er tritt im Sitzen von einem Fuß auf den anderen. - Nur um dann zögernd zu gestehen, dass es keinen solchen Mantel gäbe ... aber ... wenn sie uns folgen wollten, so würden wir ihnen helfen, den Staub zu finden, der dies bewirke. – Um es vorauszuschicken, so entstand dann später das Märchen vom Elfenstaub. – Also, wir führten sie dann weit durch den Wald und zu einsamen Stellen, an denen viel von diesem riesigen Farnkraut wuchs, oft viel größer als wir selbst. Wir waren sehr geschickt und hatten schnell ausreichend Sporenstaub gesammelt, den wir unseren Peinigern in die Hände schütteten. Ja, sagten wir ihnen dann, dieser Staub ist noch nicht wirksam, aber wenn ihr ihn einige Tage vorsichtig in der Hand haltet und trocknen lasst, dann ... Geheimnisvoll hält Dusty seine Hände vor dem Oberkörper, ganz so als hielte er in ihnen ein kostbares Juwel ... ja, dann könnt ihr ihn euch über den Kopf werfen und seid unsichtbar! Mit einer entsprechenden Geste streut sich Dusty den unsichtbaren Staub über den Kopf. Während sie dann gierig mit ihrem Schatz beschäftigt waren – einige den Staub in ihren Händen zu halten, andere die Farne nach Sporen abklopfend, machten wir uns auf flinken Sohlen im hohen Farnkraut von dannen.


Irgendwann, als die Christianisierung in unserem Land schon weit fortgeschritten war, zogen auch wir nach und nach in die Dörfer. Wir behielten immer unsere alte Volksreligion bei und galten als Heiden. Wie gesagt, in vieler Hinsicht hatten wir gelernt, uns perfekt zu tarnen. So wurden wir nie zum Opfer der zahlreichen Verfolgungen und Hexenverbrennungen. Über unser Wissen sprachen wir nur im Geheimen. Das war bis in jüngste Zeit hinein so. In der Schule durfte ich sogar meinen Namen Dusty nicht benutzen, und wenn mein Großvater Besuch von einem Eingeweihten bekam, unterhielten sie sich in einem Code, dessen wahre Bedeutung von Außenstehenden nicht verstanden werden konnte. Als ich vor etwa 10 Jahren meinen ersten öffentlichen Vortrag hielt, kam anschließend der Bischof, um den Raum von all dem „bösen Zauber“ zu reinigen!


Manchmal kamen früher heimlich die Bauern zu uns, wenn ihre Felder nicht richtig wuchsen und sie sich keinen Rat mehr wussten. Seht ihr, die Erde ist wie der menschliche Körper von Energielinien überzogen, den so genannten Ley Lines, und es kann sein, dass der Energiefluss blockiert ist und deswegen die Felder keine Erträge mehr bringen. Wir haben dann die Erde akupunktiert. Allerdings sind dafür viel größere „Nadeln“ erforderlich, als beim Menschen. Wir benutzten lange Stangen, die an den richtigen Stellen in den Boden geschlagen werden mussten. An diesen Stangen wurde ein Querstab befestigt, den es im richtigen Verhältnis zum Verlauf der Energielinien auszurichten galt. Diese übergroßen Akupunkturnadeln standen dann wie Kreuze in der Landschaft und die Christen glaubten, wir würden irgend einen bösen Zauber mit ihrem heiligen Kreuz anstellen. Um allem Ärger aus dem Wege zu gehen, zogen wir den Kreuzen Kleidung an und setzten ihnen einen Hut auf. Dann behaupteten wir, das diene dazu, die Krähen zu verscheuchen - und die haben das geglaubt ...

Schelmisch lacht Dusty in sich hinein und ich sehe, wie er sich innerlich an die Stirn tippt. --

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