Vom Schicksal

Elmar Woelm


Gierig trank er den letzten Schluck aus seiner Flasche, saugte mit Bedauern die letzten kleinen Tropfen auf und blinzelte in die Mittagssonne. Leer, dachte er bei sich, und der Tag hat gerade erst begonnen. Verächtlich gab er der Flasche einen Tritt und beobachtete voller Genugtuung, wie sie über die Straße kollerte und am Bordstein auf der anderen Seite zerschellte. Wie er sie hasste, diese Flaschen und gleichzeitig waren sie sein einziger Trost. Doch gerade das war es, was er an ihnen hasste, dass er nicht ohne sie konnte. – Und, dass sie sich so rar machten, so schwer an sie `ranzukommen war, zumindest für Seinesgleichen, die Verfluchten dieser Erde, die das Leben und der Schöpfer vergessen zu haben schien.


Ein Rülpser entrang sich seiner Kehle, und er spuckte im hohen Bogen auf die Straße. Verdammt! Irgendwo musste er eine neue Flasche herkriegen, wenn er diesen Tag heile überstehen wollte – mindestens eine! Seine zittrigen Finger fuhren unter den zerlumpten Mantel und begannen die juckenden Achseln zu kratzen. Scheiß Leben! Warum musste alles so ungerecht sein? Da gab es die einen, denen anscheinend alles gelang, die Glück im Leben hatten, die reich waren und sich um nichts zu sorgen brauchten. Und da gab es die anderen, wie ihn, vor denen jedes bisschen Glück zu fliehen schien, egal, wie sie sich auch anstrengen mochten. Wenn man einmal dort angekommen war wie er, dann war sowieso alles vergebliche Liebesmüh. Hier kam niemand mehr raus! Doch was sollte er anderes erwarten? Sein Vater ein heruntergekommener Säufer, der jeden geringen Pfennig den er heimbrachte versoff, der Frau und Kinder prügelte. Und seine Mutter eine hässliche alte Hure, die ihren Körper an fremde geile Freier verkaufte, um wenigstens das Notwendigste zum Essen herbeischaffen zu können. Verflucht, verraten und verkauft! Wie er sie hasste, seine Eltern, seine Herkunft, sein Leben. Was hatte bei den Eltern schon anderes aus ihm werden sollen! …




… Marie, der Nächste bitte!

Er wechselte mit geschickten Händen die dünnen Latex-Handschuhe, spreizte einige Male die Finger und schaute fast liebevoll auf die blinkenden Werkzeuge, die Stück bei Stück in der Schale lagen. Ja, sie ermöglichten es ihm, genau das Leben zu führen, von dem er schon als Kind geträumt hatte. Was war er doch für ein Glückspilz! Eine gutgehende Praxis, eine liebevolle Frau und zwei wunderbare Kinder. Dazu ein Haus mit Pool in einem der angesehensten Viertel der Stadt.


Was wollte er mehr? Das Leben meinte es wirklich gut mit ihm. Sicher, er hatte es nicht immer so gut gehabt, er hatte hart und viel dafür arbeiten müssen und es war nicht immer leicht gewesen. Wenn er es sich recht besah, hatte er all das nur seinen Eltern zu verdanken. – Nein, er hatte keine Reichtümer geerbt, ganz im Gegenteil. Er war unter den ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen – sein Vater ein stadtbekannter Trinker und seine Mutter war auf den Strich gegangen um die Familie durchzubringen. Ganz leicht standen ihm die Tränen in den Augen, wenn er an ihr schweres Leben dachte. Wie dankbar war er seinen Eltern, dass sie ihm das Leben geschenkt hatten!


Gerade das Leiden und die Entbehrungen hatten in ihm seinen Traum genährt, den heißen, süßen Traum auf ein besseres Leben. Ein Traum, der ihm Trost und Kraft zugleich war, der ihn zog und trieb und ihm half durchzuhalten, wenn das Leben ihm allzu arg zuzusetzen drohte. In seiner Kindheit war er durch eine so harte Schule gegangen, dass ihm gar nichts anderes übrig geblieben war, als alles daranzusetzen, es später einmal besser zu haben. Alles, was ihm später an Schwierigkeiten auf seinem Weg begegnet war, war nichts gewesen im Vergleich mit seinen Kinderjahren.


Ja, dachte er erneut, du bist tatsächlich ein Glückspilz. Was hatte bei den Eltern schon anderes aus ihm werden sollen!

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