Kybele
Elmar Woelm
Auszüge aus dem Roman
Elisabeth schlief die meiste Zeit, während die Kutsche des Pfarrers über die unebenen Wege humpelte. Nur hin und wieder wachte sie auf und besah sich die Felder und Hecken, an denen sie vorüberfuhren. Gelegentlich führte sie der Weg durch einen kleinen Wald, hin und wieder einen Hügel hinauf, dann wieder hinunter. Am Horizont, fast in greifbarer Nähe wie es schien, die großen Berge, deren höchste Gipfel auch im Sommer weiß vom Schnee und Eis glänzten. Elisabeth fragte sich was es war – irgendetwas lockte sie an diesen Bergen und sie nahm sich im Stillen vor, sie so bald wie möglich einmal aufzusuchen. Obwohl es nicht sonderlich bequem auf der einspännigen kleinen Kutsche war, bemerkte sie, wie sie sich mehr und mehr beruhigte und entspannte. War es der Frieden der Natur, dem sie dies zu verdanken hatte? War es die Erleichterung wegen der überstandenen Gefahr und Anstrengung der letzten Tage, die sich, je weiter sie sich von der Stadt entfernte, desto mehr verströmte? ... Vielleicht auch die Anwesenheit des fremden Priesters, der sie auf so wohltuende Weise berührte, als würde sie ihn schon lange kennen. Sie sprachen wenig. Er schien überhaupt ein ziemlich einsilbiger Mensch zu sein. Es war aber überhaupt nicht unangenehm – im Gegenteil! Sie hatte das Gefühl, sich in seine Stille hineinfallen lassen zu können und fühlte sich seltsamer Weise völlig geborgen und akzeptiert, obwohl sie ihn kaum kannte.
Es war später Nachmittag, als sie das Dorf erreichten und vor einer hübschen kleinen Kirche inmitten des Ortes anhielten. Der Pfarrer war nicht dort, also fuhren sie weiter, aus dem Ort hinaus und durch eine Allee aus Birken, deren weiße Rinde in der fast abendlichen Sonne einen rötlichen Schimmer bekam, vorbei am Friedhof, bis sie endlich am Pfarrhaus ankamen.
Die beiden Freunde begrüßten sich herzlich.
„Welch eine Überraschung, Peter! Mit deinem Besuch hatte ich jetzt am wenigsten gerechnet – und noch dazu in Begleitung einer so hübschen jungen Dame! ... Kommt herein, kommt herein. Mein Haus ist wie immer das Deinige. Pfarrer Peter stellte seine Begleiterin kurz vor, dann begaben sie sich hinein. Die Zimmer waren geräumig und angenehm hoch, fast herrschaftlich, mit Fenstern, die viel Licht hinein ließen.
„Angela!“, rief der Pfarrer. „Angela, wir haben Besuch – Zum Abendessen und für die Nacht! Angela ist meine Haushälterin“, erklärte er Elisabeth. „Die wichtigste Person im Pfarrhaus, die gute Fee, Mädchen für alles ... stimmt es nicht, Peter?“
Angela erschien in der Tür, eine leicht übergewichtige gutmütige Person mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht. Auch sie freute sich offensichtlich über die erschienenen Gäste.
„Angela, die beiden werden hungrig sein. Sei so gut und mach uns ein kräftiges Abendessen und richte bitte zwei Betten für die Nacht“, bat sie der Pfarrer. „Und wir machen es uns hier so lange bequem und ihr erzählt, was euch so unerwartet hier herführt“, fuhr er zu Peter und Elisabeth gerichtet fort.
Sie setzten sich in die bequemen Sessel und der Pfarrer schenkte ihnen ein Glas Rotwein ein. Dann lehnte er sich geruhsam zurück und ließ sich von Peter die ganze Geschichte erzählen.
„Ich dachte, bei dir ist sie am besten aufgehoben!“, schloss er. „Ich möchte, dass sie eine Zeitlang bei dir wohnen kann, damit sie sich erholt und vor eventuellen Verfolgungen sicher ist. Du hast ja gehört, sie hat einiges durchgemacht in den letzten Tagen.“
Der Pfarrer hatte ruhig und ohne auch nur einmal zu unterbrechen zugehört, was nicht immer seine Angewohnheit war. Aber nun, als sein Freund sprach, wurde er von dessen unwiderstehlicher Ruhe in den Bann gezogen. Wie oft schon hatte dieser es fertiggebracht, den so geschwätzigen und oft etwas angespannten Berufskollegen in einen erstaunlichen Zustand der Gelassenheit zu bringen. Auch schien er ein recht unerschütterliches Vertrauen in seinen Freund zu haben, denn ohne die geringsten Zweifel zu äußern, akzeptierte er alles, was ihm erzählt wurde und war sofort bereit, Elisabeth aufzunehmen.
„Ja, selbstverständlich!“ Er sah Elisabeth neugierig, und voller Mitgefühl an. „Sie kann bleiben, solange sie will. Angela wird sich freuen, wenn sie jemanden zu bemuttern hat und auch ich freue mich, wenn zur Abwechslung etwas mehr Leben ins Haus kommt.“
Er war nicht groß, ein wenig rundlich und schien das Leben zu genießen. Das ganze Haus war geschmackvoll und großzügig eingerichtet. Irgendwie schienen er und seine Haushälterin zusammenzupassen, fand Elisabeth, obwohl sie bisher nur wenig von ihnen wusste. Ob sie schon lange das Pfarrhaus versorgte? Irgendwie hatte sie von früher Pfarrhäuser immer als dunkel und eher unheilvoll in Erinnerung. Und sie kannte auch keine Pfarrer wie die beiden hier. Bei ihnen zu Hause ... sie hatte ihn nur selten gesehen als sie noch sehr klein war. Sie hatte ihn nicht gemocht und irgendwann hatte sie sich gegen den Willen ihrer Mutter durchgesetzt und war nicht mehr mit in die Kirche gegangen, obwohl das ein ziemlicher Kampf gewesen war, denn ihre Mutter war sehr fromm. Sie fröstelte und spürte, wie sie Schmerzen im Bauch bekam. Die ganze Anstrengung der letzten Tage ... Es würde schön sein, die Ruhe dieses Ortes und die Fürsorge ihrer Gastgeber genießen zu können. Bald wäre sie wieder ein neuer Mensch. Ihr Bauch zog sich zusammen und sie merkte, wie ihr übel wurde. Unverhofft, stürzte sie aus dem Zimmer, hinaus in den Garten, wo sie sich erbrach, obwohl sie außer einer Kleinigkeit gegen Mittag nichts gegessen hatte. Als sie zurückkam, entschuldigte sie sich.
„Ich habe wohl den Wein nicht vertragen, nach all den Strapazen“, erklärte sie.
„Gleich wirst du etwas Anständiges in den Magen kriegen“, meinte der Dorfpfarrer gutmütig. „Dann geht es dir gleich wieder besser.“
Während sie weiter dem Gespräch der beiden Pfarrer lauschte, spürte sie, wie müde sie wurde und dabei hatte sie fast den ganzen Tag geschlafen. Es war wohl tatsächlich der ungewohnte Wein, der sich warm in ihrem Leib ausbreitete. Sie träumte mehr, als dass sie das Gespräch der beiden verfolgte, nun, da sie sich ihren eigenen Themen zugewandt hatten.
Irgendwann war sie wohl eingenickt. Sie konnte sich an nichts mehr erinnern, als sie am anderen Morgen erwachte. Die Sonne schien hell und die Vögel zwitscherten. Sie befand sich allein in einem kleinen Raum, dessen zwei Fenster sich zum Garten hin öffneten. Von ihrem Bett aus schaute sie direkt in die große Krone einer Buche. Sie fühlte sich erfrischt und wie neu geboren. Sie streckte sich, döste wieder ein wenig ein, wachte aber dann plötzlich wieder auf und fragte sich, wie spät es wohl sein mochte, als die Schläge der Kirchturmuhr vom Ort herüberklangen. Ohne dass es ihr bewusst war, zählte sie mit. ...Sieben ... acht ... neun ... Die Uhr schwieg. Was, so spät schon, durchfuhr es sie.
„Hmmm ..., daran könnte ich mich gewöhnen, wie ein Faulpelz in einem so gemütlichen Bett den Tag zu verträumen“, seufzte sie. Dann schlug sie energisch die Decke fort und richtete sich auf. Erst während sie sich ankleidete, kam ihr wieder so richtig zu Bewusstein, was sie die letzten Tage erlebt hatte. Es war erstaunlich, aber es schien ihr irgendwie schon fast eine Ewigkeit her zu sein. Dies hier war so eine neue, veränderte Welt, dass sie sich fest entschloss, der Zukunft frohen Mutes entgegenzusehen, mochte die Vergangenheit auch noch so grausam gewesen sein.
Sie fand die Haushälterin in der Küche.
„Oh, unser junger Gast“, begrüßte sie Elisabeth. „Ich hoffe, du hast gut geschlafen – oh, ganz sicher hast du das, du siehst aus wie der junge Frühling. Schön, dass es dir wieder besser geht. Warte nur ab, ein paar Tage unter meinen Fittichen und du wirst dich selbst nicht wieder erkennen!“
Elisabeth schmunzelte. Angela war nett, eine richtige fürsorgliche Mama. Ob sie selbst Kinder hatte? Wahrscheinlich nicht, dachte Elisabeth.
„Du hast bestimmt einen riesigen Hunger, oder nicht? Nachdem du ja gestern mein wunderbares Abendessen verpasst hast. Ja, du warst plötzlich einfach eingeschlafen und da habe ich dich in dein Zimmer gebracht ... Weißt du, ich habe eine Idee. Es ist solch ein herrliches Wetter. Wir nehmen ein paar leckere Sachen mit hinaus und setzen uns in den Garten. Einverstanden?“ Oh ja, und ob sie einverstanden war!
Das Frühstück war köstlich. Wie oft hatte sie mit Samos draußen an einer schönen Stelle ... Ach, Samos, seufzte sie innerlich bei dem Gedanken an den alten Freund und Lehrer. Sie hatte ihn gern gehabt und er tat ihr leid ... trotz allem. Fast ein Jahr war sie mit ihm umhergezogen, aber so vieles hatte sich in der Zeit ereignet, dass es ihr wie eine Ewigkeit vorkam. Hatte sie sich soeben noch wie ein kleines Mädchen gefühlt, unbeschwert und fröhlich in Angelas munterer und unbekümmerter Gesellschaft, so war sie plötzlich wieder um Jahre gealtert, war wieder die Jungfrau Elisa und mit unsäglichem Druck empfand sie auf einmal die Verantwortung auf ihren Schultern, die sie, ohne es zu merken, in dieser Rolle auf sich geladen hatte. Sie hatte sich so erwachsen gefühlt und so stark, und nun konnte sie sehen, wie empfindlich, wie unerfahren sie in Wirklichkeit war.
„Was ist mit dir?“, fragte Angela, die ihre plötzliche Veränderung bemerkte.
„Ach nichts“, sagte Elisabeth und schüttelte die Erinnerungen von sich ab. Ja, wenn sie sich irgendwo von den Schatten der Vergangenheit erholen konnte, dann hier, unter der fürsorglichen und doch so fröhlichen Obhut von Angela.
Der Pfarrer aus der Stadt war bereits am frühen Morgen wieder abgereist. Er ließ Elisabeth seine besten Grüße ausrichten und wünschte ihr baldige Genesung. Schade, dass er schon wieder fort ist, fand sie. Warum konnte er nicht hier der Pfarrer sein!
„Wir haben gestern Abend überlegt, dass es besser ist, dir einen neuen Namen und eine neue Vergangenheit zu geben. Für alle Fälle!“, erzählte ihr Angela.
„Du bist meine Nichte und besuchst mich für einige Zeit. Ich bin selbst auch nicht von hier und die Leute kennen all die Einzelheiten meiner Familie nicht. Es ist bekannt, dass ich Geschwister habe, aber die wohnen fern von hier und haben mich noch nie besucht. Die meisten Leute wollen mir ihr Herz ausschütten und sind nur selten daran interessiert, etwas über mich zu erfahren. – Ja, so ist das schon immer gewesen!“, fügte sie noch hinzu. Elisabeth konnte das gut verstehen. Angela hatte eine so angenehme Ausstrahlung, eine Mischung aus Mütterlichkeit, Freundschaft, Frohsinn und Wärme, dass man fast nicht umhin konnte, sich an ihr anzulehnen ... fast wie eine Urmutter, kam ihr plötzlich in den Sinn und es durchlief sie ein ganz sonderbares Gefühl von Wärme.
„Ich möchte Kybele heißen ...!“, entfuhr es ihr. Angela sah sie überrascht an.
„Welch ein ungewöhnlicher Name.“ Elisabeth fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Wie war sie darauf gekommen? Sie kannte diesen Namen gar nicht ... Doch, sie kannte ihn schon. Irgendwie war er ihr vertraut, aber sie kannte niemanden der so hieß - soweit sie sich erinnern konnte.
„Er fiel mir einfach so ein“, erklärte sie Angela. „Vielleicht habe ich ihn mal irgendwo gehört.“
„Warum nicht“, meinte Angela. „Wenn er dir gefällt und ... ja, ich glaube, ich könnte mich daran gewöhnen, irgendwie hat er etwas ... Kybele!“
Sie plauderten noch eine ganze Weile und es dauerte gar nicht lange, bis „Kybele“ das Wichtigste aus ihrer Elisabeth-Vergangenheit erzählt hatte. Schließlich meinte Angela:
„So, nun wird es höchste Zeit, dass ich mich um das Mittagessen kümmere. Wie gut, dass ich das meiste schon vorbereitet habe! Die Zeit mit dir ist vergangen wie im Flug.“
Elisabeth erhob sich und begann den Gartentisch abzuräumen.
„Lass nur, lass nur“, forderte Angela sie auf. „Ich mach das schon. Sieh du zu, dass du dich weiter ausruhst, mit anpacken kannst du dann immer noch.“
„Danke Angela, aber ich bin nicht müde“, entgegnete Elisabeth. „Ich glaube es tut mir gut, wenn ich ein wenig zu tun habe. Darf ich dir in der Küche helfen?“
„Wenn du möchtest, dann natürlich gerne“, stimmte Angela zu.
Der Pfarrer kam pünktlich zum Mittagessen heim. Wie Angela erzählt hatte, war er unterwegs gewesen um Krankenbesuche zu machen. Leutselig erkundigte er sich, wie es Elisabeth ginge.
„Kybele ... hmhmm“, stellte auch er mit einer gewissen Verwunderung fest. „Wenigstens heißt hier nicht jedes zweite Mädchen so – da gibt’s so schnell keine Verwechslungen.“ Er lachte. „Hmm ... hmm ...“, brummte er dann noch unverständlich in den Bart. Alte Geschichte, oder ... muss ich mal nachschauen ...“
Angela und Elisabeth wussten nicht, worauf er hinaus wollte, bekümmerten sich aber nicht weiter darum.
„Auf jeden Fall freut es mich, dass du schon wieder so gut auf den Beinen bist – ein wenig blass noch und Ringe unter den Augen. Ich hatte schon befürchtet, du würdest uns noch ernstlich krank werden. Wart nur ab, in einigen Tagen laufen dir die ganzen jungen Männer des Ortes hinterher.“ Er zwinkerte ihr schelmisch zu, faltete die Serviette zusammen und verließ das Esszimmer.
„Er ist immer so“, bemerkte Angela. „Er ist kein Kind von Traurigkeit, das hast du wahrscheinlich schon gemerkt.“
Elisabeth zuckte gleichgültig mit den Schultern. Ihr war es recht, nun ein wenig Fröhlichkeit und Unbeschwertheit um sich zu haben.
So vergingen die nächsten Tage, ohne dass etwas Besonderes geschah. Elisabeth hatte schnell begriffen, worauf es im Pfarrhaus ankam. Sie half wo sie konnte und Angela und sie hatten schöne Stunden zusammen. Elisabeth wollte nichts schuldig bleiben, daher war es selbstverständlich für sie, fleißig mit anzupacken. Außerdem hatte sie schon oft festgestellt, wie gut ihr körperliche Bewegung tat und wie sehr sie ihr half, jeden Anflug von Schwermut zu überwinden. Gelegentlich begleitete sie Angela ins Dorf und so sprach es sich schnell herum, dass Besuch im Pfarrhaus war, die hübsche junge Nichte der Haushälterin – wie schön, dass sie endlich einmal Besuch aus der fernen Heimat bekam! Anfangs klopfte Elisabeth gewaltig das Herz. Sie hatte den Eindruck, jeder müsse sie sofort erkennen oder wenigstens Verdacht schöpfen, doch nichts dergleichen geschah. Überall wurde sie freundlich begrüßt, fern von jedem Argwohn, und so gewöhnte sie sich langsam daran. Trotzdem blieb sie am liebsten zu Hause, in der vertrauten Umgebung des Pfarrhauses. Als Abwechslung reichten ihr die gelegentlichen Spaziergänge durch die Felder und Wiesen, bei denen sie mitunter von Angela begleitet wurde. Den Pfarrer sah sie in diesen Tagen recht selten. Sie mochte seine humorvolle Art, die er meistens an den Tag legte. Und doch war da auch etwas, das sie auf Distanz zu ihm hielt. Sie hatte das Gefühl, nie so warm und vertrauensvoll mit ihm werden zu können wie mit Angela. Nie hätte sie sich ihm gegenüber so öffnen können. Aber Angela war ja auch eine Frau, vielleicht lag es daran. Nach der langen Zeit, die sie fast nur mit Samos zusammengewesen war, tat ihr der Kontakt und die Art wie sie mit ihrer neuen Freundin Gespräche führen konnte sehr wohl. Sie fühlte, wie ihr das Sicherheit und Kraft gab. Das ein oder andere Mal hatte sich abends eine Unterhaltung mit dem Pfarrer ergeben. Was sie an ihm schätzte, war neben der Heiterkeit seine Bildung, etwas was sie auch bei Samos schon angezogen hatte. Er war sehr belesen und seine Bibliothek füllte einen ganzen eigenen Raum. Samos Büchersammlung war ihr schon riesig vorgekommen und nun konnte sie erahnen, wie bescheiden die gewesen war.
Aber auch eine andere Seite von ihm lernte sie im Laufe der Zeit kennen, die des Priesters. Eine Rolle, die sie nur zu gerne vergaß und die er ihr bisher in keiner Weise aufgedrängt hatte.
„Kybele ...“, sagte er eines abends. „Es hat eine Weile gedauert, bis es mir wieder eingefallen ist. Wie bist du auf diesen Namen gekommen? – Du hast viel gelesen, scheint mir.“
„Ein wenig“, antwortete Elisabeth. „vor allem in den letzten Monaten mit Samos, meinem Lehrer. Er hatte viele Bücher.“
„Bist du da dem Namen begegnet!“
„Nein ... ich weiß nicht, vielleicht, aber ich glaube eher nicht. Der Name fiel mir plötzlich ein. Er gefiel mir und ich wusste, dass ich so heißen wollte.“
„Du weißt also nicht, woher er kommt?“ Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern sprach sofort weiter: „Du hast bestimmt irgendwann davon gelesen! Hattet ihr griechische Bücher, oder welche aus der älteren römischen Geschichte?“
Elisabeth schüttelte den Kopf. Sie hatte nie etwas in die Richtung gelesen.
„Es handelt sich um eine Gestalt aus der alten Mythologie, es ist mir eben wieder eingefallen. Ich kann mich aber an Einzelheiten nicht mehr erinnern. Vielleicht eine Gottheit oder so etwas. Wenn ich Zeit und Muße finde, werde ich einmal nachforschen. Auf jeden Fall ein heidnischer Name. Nur gut, dass das hier niemand weiß; so gebildet sind die Menschen hier nicht und selbst wenn, wäre das wohl auch zu speziell.“
Er schwieg eine Weile, bis er schließlich fragte: Wie steht es eigentlich mit deinem Glauben? Ich habe dich bisher nicht danach gefragt und du hast deinerseits noch nicht viel über dich erzählt.“
Elisabeth blieb ihm die Antwort schuldig und griff nach dem Buch, das sie vor sich liegen hatte.
„Du bist mit einem fahrenden Menschen gezogen, der, wie ich hörte nicht ganz der war, für den er sich ausgab, und damit in unverdientes Unglück geraten“, sagte er. „Bist du mit ihm verwand?“ Er war plötzlich so ernst geworden. Elisabeth schüttelte den Kopf. Es zog sich in ihr zusammen.
„Vielleicht möchtest du einmal über alles sprechen, mit mir als Priester. Dann bin ich immer für dich da. Vielleicht hast du selbst bei dem Ganzen doch irgendeine Schuld auf dich geladen ... Du weißt, dass Gott dir alles verzeiht, wenn du wirklich bereust und ihn um seine Gnade bittest?“ Er schwieg eine Zeitlang und sah auf das Glas Wein, dass er in den Händen hielt. Auch Elisabeth sagte nichts. Sie wollte nichts von Sünde hören. Sie hatte sich nichts vorzuwerfen und doch hatte er bewirkt, dass sie sich schuldig fühlte. Wie zu Hause bei ihrer Mutter. Oft hatte schon eine kleine Bemerkung von ihr genügt, eine kleine Geste gar, um dieses Gefühl von Schuld in ihr zu wecken. Sie blätterte scheinbar gedankenverloren in dem Buch.
„Der beste Weg zu seiner Gnade führt über einen Priester, dem du dich anvertraust, dem du alles bekennst!“ Er schaute von seinem Glas zu ihr. Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment. Elisabeth schlug sofort ihre Augen nieder. Sie konnte fühlen, wie er sie musterte und sie bekam Angst. Schließlich stand der Pfarrer auf.
„Es ist Zeit zur Ruhe zu gehen“, sagte er. „Morgen ist Sonntag. Du gehst doch mit Angela in die Messe? Es wird dir gut tun, glaube mir. Gott reinigt unsere Seelen!“
Er bemerkte, wie unglücklich Elisabeth aussah. Sie war so jung und wirkte so unschuldig und doch schien sie schon viel erlebt zu haben. Was machte ein so hübsches Mädchen allein in der Welt? War sie eine Waise? Er war neugierig mehr zu erfahren.
„Lass den Kopf nicht hängen“, versuchte er sie aufzumuntern. „Du weißt, dass ich kein Freund von Trübsinn bin, aber manchmal sind ein paar ernste Worte nötig.“ Er lächelte, aber irgendwie schien es Elisabeth nicht ganz echt. Er setzte sich neben sie und nahm ihre Hände. Sie wollte das nicht. Was fasste er sie an? Ihr Hals schnürte sich zu. Energisch wollte sie ihre Hände zurückziehen, doch sie war wie gelähmt. Schließlich stand sie mit einem Ruck auf und sagte mit unsicherer Stimme:
„Ich muss ins Bett – es ist schon spät, ich bin müde.“ Er hielt sie nicht auf, löste seine Hände und erhob sich ebenfalls. Wie scheu dieses resolute Kind auf einmal war.
„Ich möchte dich nicht bedrängen! Nur dass du weißt, dass du mit mir reden kannst, wenn du magst. Und vielleicht hast du ja an Angela sogar eine noch bessere Zuhörerin ...“
Einmal im Monat hatten sie früher sonntags den weiten Weg nach Grunstein gemacht, um in die Kirche zu gehen. Das winzige Dorf, in dessen Nähe sie wohnten, hatte weder eine eigene Kirche, noch einen Pfarrer. Ihre Mutter hatte immer bedauert, dass es so weit war. Sie mussten mitten in der Nacht aufstehen, um rechtzeitig dort zu sein. Manchmal waren sie auch schon einen Tag eher gefahren, oder sogar zwei und hatten die Gelegenheit genutzt, den Markt zu besuchen. Dann schliefen sie bei Verwandten oder Freunden. Der Pfarrer hielt an solchen Tagen immer eine Extrastunde für die Kinder ab, die von weiter her kamen. Er erzählte ihnen aus der Bibel und versuchte ihnen den rechten Glauben an Gott beizubringen. Anschließend war für die, die alt genug waren, Gelegenheit zur Beichte. Elisabeth hatte die Beichte gehasst, aber ihre Mutter bestand darauf, dass sie hinging. Elisabeth mochte den Pfarrer nicht. Er war immer ganz in schwarz gekleidet und hatte ein glänzendes Gesicht. Er lachte fast nie und wenn, dann wirkte es ganz komisch. Er sprach viel von Sünde und wenn man ihm glaubte, so schien es Gottes einziges Ziel zu sein, die Menschen zu strafen und ihnen die Freude am Leben zu nehmen. Elisabeth war schon bald der Meinung gewesen, dass sie mit solch einem Gott lieber nichts zu tun haben wollte. Und dann stellte er immer so merkwürdige Fragen bei der Beichte, die Elisabeth nie richtig verstanden hatte. Später, als sie zu ahnen begann, was er meinte, wollte sie nicht darauf antworten. Warum fragte er das? Erzähle mir, was du tust, wenn du abends im Bett liegst und nicht einschlafen kannst – Elisabeth schlief aber immer sofort ein, damals. Badest du mit deinem Bruder zusammen? Was für Spiele spielt ihr, wenn ihr allein seid? Hältst du dich auch schön sauber und wäscht dich regelmäßig ... überall, auch ... na du weißt schon, erzähl davon. Du weißt doch, dass du alles ehrlich beichten musst ...
Elisabeth lag unruhig in ihrem Bett in der Pfarrei und sah die alten Situationen wieder vor sich, die sie lange Zeit vergessen hatte. Als sie alt genug gewesen war, seine Fragen richtig zu deuten, schämte sie sich schrecklich und wäre am liebsten davongelaufen. Doch ihre Mutter bestand darauf, dass sie weiter hinging. Sie hatte mit ihr nie über das sprechen können, was sie bedrückte. Sie und der Pfarrer, sie schienen sich ja einig zu sein.
Der folgende Morgen weckte sie mit strahlendem Sonnenschein und Angela kam mit so ausgezeichneter Laune in ihr Zimmer, dass die Schatten, die sie über Nacht verfolgt hatten, bald verflogen. Außerdem überraschte sie Elisabeth mit einem so großartigen Geschenk, dass sie überglücklich war.
„Dreh dich um!“, sagte sie zu ihr. „Du darfst nicht gucken! Warte einen Moment, ich bin sofort wieder da.“
Als sie wiederkam, hielt sie ein neues Kleid für Elisabeth in den Händen und hielt es ihr an.
„Na, gefällt es dir?“
„Und wie, das ist ja großartig! Woher hast du das?“, rief Elisabeth begeistert.
„Komm, zieh es an“, forderte Angela sie auf. Elisabeth wartete nicht lange und schlüpfte hinein. Das Kleid war weit geschnitten, luftig und leicht, mit bunten Blumen darauf. An der Taille geschlossen, fiel es dann wieder locker und weit bis zu ihren Knöcheln hinab. Sie sah wunderbar aus. Ein wenig verspielt vielleicht – auf jeden Fall im Vergleich zu dem Kleid, was sie die letzte Zeit bei ihrer Arbeit mit Samos getragen hatte. Sie flocht sich die Haare zu langen Zöpfen und steckte sie um den Kopf gewunden fest.
„Heute bist du die Märchenprinzessin hier im Dorf!“, meinte Angela. Sie trat auf Elisabeth zu und zupfte das Kleid an einigen Stellen zurecht, bis es überall passend saß. „Komm mit“, sagte sie dann. „Du musst dich unbedingt im Spiegel sehen!“
Der Gottesdienst beeindruckte sie. Ihr wurde bewusst, dass sie sich innerlich fest vorgenommen hatte, das Ganze abzulehnen, mit dem Wunsch, ihre alten Vorstellungen und Erlebnisweisen erneut bestätigt zu bekommen und sie hatte erstaunt feststellen müssen, dass es ganz anders war. Der Pastor, der dort stand, war ein ganz anderer als der, den sie von früher kannte. Und ganz anders war auch der gesamte Gottesdienst gewesen, ganz anders schienen all die Menschen hier zu sein, die so viel Freundlichkeit ausstrahlten. Irgendetwas hatte sie getragen und ihrer Seele Frieden geschenkt, eine innere, unaufdringliche Glückseligkeit, die sie nie mit Gott und Kirche in Verbindung gebracht hätte ... ja, es war seltsam.
Nach der Messe trafen sie auf dem Kirchplatz noch eine Reihe von Freunden und Bekannten. Sie begrüßten sich, standen eine Zeitlang beieinander und wechselten einige Worte.
„Sieh, dort ist die Schneiderin mit ihrer Tochter“, sagte Angela, entschuldigte sich kurz bei den Leuten, bei denen sie gestanden hatten und zog Elisabeth mit sich fort. „Sie hat dein Kleid genäht“, erklärte sie ihr. „Ich habe sie vor einigen Tagen darum gebeten und gestern ist es fertig geworden. Ich bin so froh, dass es so gut passt – du solltest doch vorher nichts davon wissen, es solle eine Überraschung sein!“
„Die ist dir gelungen, danke Angela!“, erwiderte Elisabeth mit strahlenden Augen.
„Halloo, guten Morgen! Das ist Kybele. Sieht sie nicht wunderbar aus in ihrem neuen Kleid! Kybele, dass ist Uta, die Schneiderin bei uns im Dorf und dies ist ihre Tochter Margarete – ihr müsst etwa gleich alt sein, oder?"
Elisabeth grüßte höflich.
„Sag lieber Margo zu mir“, forderte Margarete sie auf. „Das gefällt mir viel besser. – Du siehst wirklich toll aus!“, fügte sie dann mit Blick auf Elisabeths Kleid hinzu.
„Oh, danke! Du aber auch!“, erwiderte sie das Kompliment. „Man sieht, dass du die Tochter einer Schneiderin bist.“ Margo errötete ein wenig.
„Ich habe es selbst gemacht“, erzählte sie dann.“ Ich lerne bei meiner Mutter. Ich möchte auch Schneiderin werden.“
Elisabeth besah sich bewundernd Margos Kleid näher an.
„Das ist toll! Wirklich Margo, du bist bereits eine Schneiderin, wie mir scheint. Ich habe auch ein wenig zu nähen gelernt und bringe so einiges ganz leidlich zustande, aber dieses Kleid – es ist so aufwendig gemacht und diese feinen Stiche ...“ Elisabeth war wirklich beeindruckt.
Margo wusste nicht so recht, was sie darauf antworten sollte. Sie war stolz über Elisabeths Komplimente, gleichzeitig genierte sie sich.
„Wenn du Lust hast, kann ich dir ja mal ein paar Tricks zeigen oder wir nähen einmal etwas für dich gemeinsam“, meinte sie dann. „Wie lange wirst du bleiben?“
„Ich weiß noch nicht. Wie alt bist du?“
„Sechzehn.“
„Ich auch!“
„Wirklich? Ich hätte dich für älter gehalten. Kommst du auch zum Tanz, heute Nachmittag?“
Elisabeth zögerte.
„Eigentlich nicht ...“
„Bitte! Ich würde mich so freuen! Du musst einfach kommen ... Weißt du was, wir gehen zusammen! Du kommst zu mir und wir gehen zusammen dahin. Jung und alt werden dort sein. Es macht immer viel Spaß! ...Du kannst doch tanzen!? Es ist auf der großen Wiese, dort unten, etwas hinter der Kirche ...“ Margo sprudelte plötzlich voller Eifer drauflos.
Wie lange hatte Elisabeth nicht mehr getanzt! Doch, natürlich konnte sie tanzen und während ihrer Reise hatte sie schon manches Dorffest mitgemacht ...
Schließlich verabredeten sie sich gleich nach dem Mittagessen und Margo erklärte ihr wo sie wohnte.
Es wurde ein herrlicher Tag. Es gab Kaffee und Kuchen, auch Bier und Wein. Es war ein munteres Treiben, ein Kommen und Gehen von Menschen. Auch aus den Nachbarorten kamen die Leute angereist. Elisabeth lernte fast das ganze Dorf kennen. Zwar wurde sie nicht jedem persönlich vorgestellt, aber Margo kannte sie alle und über jeden wusste sie etwas zu erzählen, besonders über die Jungen ihres Alters. Elisabeth merkte gar wohl, dass auch über sie gesprochen wurde. Anfangs waren ihr die Blicke unangenehm, die man oft heimlich auf sie richtete, doch je länger sie dort war, desto mehr entspannte sie sich. Margo zeigte ihr auch ihre „Favoriten“.
„Siehst du den großen Blonden da vorne ... da, neben dem Fahnenmast ..., das ist Karl ... ist der nicht süß!“
„Ein bisschen lang“, fand Elisabeth „Er passt zu der Fahnenstange ...“ Margo kicherte.
„Ja, aber was meinst du, wie der tanzen kann ... Hoffentlich fordert er mich auf! Und du musst mal sehen, wie lieb der lächelt.“ Margo kicherte wieder und Elisabeth konnte nicht anders, als sich ihr anzuschließen.
Dann kamen zwei andere junge Burschen auf sie zu und forderten sie zum Tanz auf.
So ging es den ganzen Nachmittag, bis weit in die Dämmerung des Abends hinein. Zwischendurch fielen sie über den Kuchen her und am Abend briet man ein Schwein am Grill.
„Du musst mich unbedingt besuchen!“, bat Margo sie, als der Platz sich bereits gelichtet hatte und es Zeit war zu gehen. Sie verabredeten sich für den kommenden Abend, um einen Spaziergang zusammen zu machen.
Anfang der dritten Woche bekam Elisabeth unerwartet Post. Es war ein Brief von Peter, dem Pfarrer aus der Stadt, den er ihr über den dortigen Pastor sandte. Er teilte ihr mit, dass Dr. Samuel tatsächlich in jener Nacht getötet worden sei. Letzte Woche habe es eine Gerichtsverhandlung gegeben, in der man ihn - bereits verstorben - für schuldig erklärte, Frau Honigmond beraubt und ermordet zu haben. Von seiner Begleiterin sei in der Verhandlung nicht mehr die Rede gewesen und es würde allem Anschein zu Folge auch nicht nach ihr gefahndet. Offensichtlich, so seine Schlussfolgerung, versuchte man die Sache möglichst kurz abzuhandeln und gedachte so wenig Staub dabei aufzuwirbeln, wie möglich. Dennoch bat er sie, nicht leichtsinnig zu werden, sondern sich möglichst noch eine Weile dort verborgen zu halten. Falls sie es jedoch unbedingt fort drängen sollte, empfahl er ihr, die Stadt unbedingt zu meiden und einen großen Bogen darum zu machen. Er erwähnte auch, dass er in zwei Wochen seinen Freund besuchen käme und, wenn sie dann noch da wäre, so würde er sich sehr freuen, sie wiederzusehen. Im Übrigen wünschte er ihr viel Glück und sandte ihr seinen Segen.
Elisabeth ließ die Hand mit dem Brief in ihren Schoß sinken. Samos war tot – sie hatte es gewusst, ohne es auf diese Weise noch einmal bestätigt zu bekommen. Dennoch traf es sie schmerzhaft und ihr wurde bewusst, dass sie ins geheim irgendwie gehofft hatte, er könnte doch noch am leben sein und vielleicht sogar entkommen. Sie hatte versucht, nicht zu viel daran zu denken. Das Gemeinste an der Sache war, dass er nun ganz offiziell als Mörder galt. Das hatte er nicht verdient. Und die wahrhaft Schuldigen blieben unentdeckt. Es war so ungerecht. Ein plötzlicher Schatten schien sie einzuhüllen und für einen Augenblick hatte sie eine Vision ihres Bruders mit einer fremden Frau – es war die Frau, die sie bereits aus ihren Träumen kannte, die böse Gestalt, die ihren Bruder geraubt hatte und anscheinend eine Macht besaß, der es ihr bisher erlaubt hatte, sich allen Nachforschungen zu entziehen und die Hans mit eisernem Griff an sich band. Es war nur eine kurze Vision gewesen. Schwarz, und mit unerbittlichem spöttischen Blick. Sie musste eine Hexe sein, dachte Elisabeth. Mochte es sein, dass sie auch hier ihre Hand im Spiel gehabt hatte? Sie musste unbedingt ihre Übungen wieder aufnehmen, die sie bei Samos gelernt hatte. Einer solchen Macht konnte man wohl kaum anders begegnen.
Noch einmal überflog sie den Brief:
... es ist einiges im Argen mit der Justiz und dem Rat dieser Stadt und irgendwann wird es vielleicht gelingen, alles aufzudecken. Ich weiß, dass bereits Kräfte daran arbeiten – du hast es ja selbst bei deiner Flucht erfahren, doch zur Zeit können sie noch nicht viel ausrichten ...
Sie betete darum, dass eines Tages die Wahrheit ans Licht käme.
...Manchmal könnte man den Eindruck haben, las sie, das Böse sei übermächtig geworden und drohe uns alle langsam aber sicher von innen her zu zerfressen, doch ich weiß, dass das nicht wirklich so ist. Auch dies wird irgendwann ein Ende haben, denn das ist der Gang der Welt. Je größer der Schatten, desto kräftiger muss irgendwo auch ein Licht scheinen! ...
Voll Wärme erinnerte sie sich an den Pfarrer, wie er zu ihrer Befreiung beigetragen und sie hierher gebracht hatte. Sie freute sich darauf ihn wiederzusehen. Doch vorher wollte sie ihm einen Brief schreiben und auch Kornelia und ihrem Bruder, ohne deren Hilfe sie wohl immer noch im Kerker sitzen würde – vielleicht sogar hingerichtet wäre! Sie musste ihnen unbedingt danken und sie wunderte sich, dass sie nicht eher daran gedacht hatte. Welches merkwürdige Geheimnis mochte Kornelia mit der schuldbeladenen Familie Honigmond verbinden?? Den Pfarrer wollte sie bitten, ob er etwas über den Verbleib ihres Wagens wusste. Vielleicht bestand eine Chance an die Kristallkugeln heranzukommen oder auch an einige andere Dinge, die sie zurückgelassen hatten. Die Wahrscheinlichkeit war ja wohl gering, doch sie wollte es wenigstens versuchen.
Inzwischen traf sie sich regelmäßig mit Margo und manchmal auch mit einigen ihrer Freundinnen und Freunde. Es war schön, wieder mehr unter jungen Menschen in ihrem Alter zu sein, auch wenn sie manchmal den Eindruck hatte, sie sei dieser Zeit längst entwachsen. Sie hatte fast vergessen gehabt, wie albern sie sein konnte, hatte fast vergessen, wie gut es tat, so unbeschwert und kindlich herumzuulken, besonders wenn die Mädchen unter sich waren. Früher zu Hause hatte sie nur selten Gelegenheit dazu gehabt, weil sie zu einsam wohnten. Oder auch die kleinen Anzüglichkeiten und ihre Gespräche über Jungen, ihre Zukunftspläne, Hoffnungen und Sehnsüchte.
„Hast du einen Freund zu Hause?“, fragte Margo.
Ja ... einen Freund ... Sie hatte manche Freunde gehabt, junge und auch alte, seit sie von zu Hause fort war. Zuletzt Samos, auch er war ein Freund gewesen, ein Freund und ihr Lehrer. Und zu Hause hatte sie ihren Bruder gehabt – nur selten Mädchen aus dem Dorf. Doch einen richtigen Freund, so wie Margo es jetzt meinte, nein, den hatte sie nicht und hatte sie nie gehabt, obwohl sie manchmal davon träumte. Plötzlich fühlte sie sich sehr einsam. Sie hatte Margo noch nie wirklich etwas von sich selbst erzählt, obwohl sie schon so oft zusammen waren. Doch durfte sie das überhaupt? War das nicht viel zu gefährlich und würde es nicht das traute jugendliche Band zwischen ihnen zerstören, falls Margo alles erführe? Mit einem Male schien sie wieder um viele Jahre gealtert und alles, was sie erlebt hatte lag wie eine unerträglich schwere Last auf ihren Schultern.
„Nein“, antwortete sie. „ ...nicht richtig ...“
„Aber da ist jemand, den du liebst?“, fragte Margo mitfühlend, denn sie konnte fühlen, dass Elisabeth etwas bewegte.
„Nein ...“, sagte Elisabeth und sah wie abwesend vor sich hin.
„Kybele, was ist mit dir, bist du traurig? Sehnst du dich nach Hause? Sicher fährst du bald wieder heim ...“
Elisabeth konnte sich nicht mehr halten. Die Tränen quollen ihr aus den Augen. Sie konnte nicht einmal sagen, was es eigentlich war. All die Wochen hatte sie versucht tapfer zu sein, ihre Rolle zu spielen und über alles hinweg zu kommen und nun lösten die wenigen Worte ihrer Freundin solche Tränen aus. Margo sah das und fühlte sich hilflos. Was konnte sie tun? Durfte sie ihre Freundin berühren?
„Weine doch nicht“, sagte sie. „Bitte weine doch nicht ...“ Dann spürte sie plötzlich, wie blödsinnig diese Worte waren. Warum solle Kybele nicht weinen, wenn ihr danach war – kannte sie ihren Grund dafür? Und überhaupt ... Warum sagte man immer „weine nicht“? Sie ärgerte sich auf einmal, wie gedankenlos sie nachplapperte, was sie von anderen gehört hatte.
„Verzeih mir“, sagte sie dann mitfühlend. „Komm ... darf ich dich halten? Ich weiß zwar nichts von deinem Schmerz, doch ich habe selbst schon genug gelitten und niemand war da, mit dem ich es hätte teilen können ... komm, ich halte dich ...“
Die jungen Frauen umarmten sich und hielten sich, und beide wussten, dass sie eine neue, wirkliche Freundin gefunden hatten. Es war schön, sich in lauter Fröhlichkeit zu verstehen und zu amüsieren, doch es war ein unbezahlbares Glück, sich in Stille und im Leiden zu begegnen und das zu teilen, dass wussten sie nun.
Elisabeth hatte eine unruhige Nacht. Sie wälzte sich hin und her, stand mehrfach auf und schaute in den mondbeschienenen Garten hinaus. Unbekannte Geister schienen es heute auf sie abgesehen zu haben. Sie versuchte sich zu entspannen, fand aber keine Ruhe ...
...Groß und dunkel stand er vor ihr. Die Luft roch nach kaltem Weihrauch. Sie hatte Angst. Musste sie das wirklich tun? Sie konnte doch nicht fortlaufen, er würde sie sofort wieder einfangen. Sie fürchtete diesen Menschen, hatte sich immer vor ihm gefürchtet.
„Nimm dein Röckchen hoch! Du weißt doch, dass man alles beichten muss und wenn man das nicht tut ...“ Seine Stimme klang unheilvoll und die unausgesprochene Drohung stand schwer im Raum. Warum hatte er die Tür verschlossen? Wollte er sie hier einsperren – sie durfte nicht fortlaufen! Sie konnte nicht fortlaufen! Warum schickte ihre Mutter sie immer wieder zu diesem dunklen Menschen. Zögernd griff sie nach dem Saum des Röckchens. Sie zitterte.
„Mach schon, zeig es mir ... du willst doch von deinen Sünden befreit werden ... was sollte deine Mutter denken ...“ Sie zog das Röckchen hoch, doch sie war wie gelähmt. Ihr Herz begann wie wild zu klopfen. Wenn sie nicht tat, was er sagte, müsste sie dann sterben? Fühlte sie sich so elend, weil sie zögerte? Sie musste ihm gehorchen. Sie wusste das und doch gab es etwas in ihr, das nicht wollte, das protestierte – so schlecht war sie!
„ ...und nun dein Höschen ... mach schon, runter damit, zeig es mir!“ Seine Stimme bekam eine merkwürdigen Klang, fast als zittere sie. Er wurde zornig, sie zögerte zu lange, viel zu lange, doch ... Es war so unheimlich hier. Die dunkle Gestalt, die nun erregt immer tiefer zu atmen begann, all die Gewänder auf den Bügeln und das Kreuz and der Wand, mit Jesus. Und Jesus weinte. Weinte, weil sie so ungehorsam war – oder? Sie schämte sich vor Jesus. Hatte den Eindruck, er wolle ihr etwas sagen, aber sie konnte ihn nicht verstehen. Wie traurig er aussah, mit der Dornenkrone ... welche Schmerzen ...
Drohend kam der Pastor einen Schritt auf sie zu: „Das Höschen, zieh es ganz aus und setz dich dort auf den Stuhl – nimm die Beine auseinander, damit ich es genau sehen kann, was du so heimlich tust, wenn du allein bist.“ Seine Stimme zitterte immer mehr. Er war so wütend. Er keuchte. Alles in ihr zog sich zusammen. Ihr wurde schwarz vor den Augen. Sie würde ihre Eltern nie wieder sehen, dass wusste sie ... Und dann spürte sie, wie ein warmer Strahl ihre Beine hinunterlief; sie konnte ihre Blase nicht mehr halten. Der Pfarrer schimpfte. Er nahm einen Lappen und wischte den Urin auf. Dann sprach er drohend auf sie ein, von der endlosen und fürchterlichen Strafe Gottes. Jesus weinte. Warum weinte er?
„ ... und du weißt ja, dass man über die Buße zu niemandem reden darf, hörst du, zu niemandem!“ In ihrem Kopf hallten die letzen Worte wider wie ein endloses Echo: zu niemandem, zu niemandem, zu niemandem .... Sie würde sicher nicht darüber sprechen, zu niemandem, niemals, niemals!
Schweißgebadet wachte Elisabeth auf. Sie zitterte. Das Bett war nass. Erst dachte sie, dass sie im Traum hineingemacht hätte, aber dann wurde ihr bewusst, dass sie ihre Regel hatte.
In der kommenden Zeit versuchte Elisabeth tatsächlich einige der alten Techniken wieder aufzunehmen, die sie mit Samos gelernt hatte, aber irgendwie wollte es ihr nicht so richtig glücken. Wenn sie wenigstens einen der Kristalle wiederbekommen könnte. Seit dem Brief an den Pastor in der Stadt ließ sie der Gedanke nicht mehr los, obwohl sie wusste, wie aussichtslos ihre Hoffnung nüchtern betrachtet war. Was für eine Welt hatte sie mit ihm betreten? Selten hatte sie sich nach ihrer Rückkehr an etwas erinnern können, aber es war immer wie eine Art Heimkehr gewesen, dort, während der Reise in den Kristall. Und sie hatte immer den Eindruck gehabt, dass es liebevolle Kräfte waren, die dort für sie sorgten, die auch draußen um sie waren, sie begleiteten und ihr halfen, auch wenn es ihr nicht bewusst war.
„Genau!“, meldete sich unerwartet das Wurzelholz. Es schimmerte mit seinem warmen Braun in den einfallenden Sonnenstrahlen.
„Was meinst du?“, fragte sie verwundert, denn es kam ja nicht oft vor, dass sich das Holz auf diese Weise in ihre Gedanken einmischte.
„Was trauerst du den Kristallen nach? Sicher, ich kann schon glauben, dass es schöne Erlebnisse für dich waren – mehr aber auch nicht! Sie sind nicht zu mehr nutze, als dich zu unterhalten, solange du nicht siehst, was wirklich um dich ist, solange du deine Gaben so mit Füßen trittst. Was suchst du nach Zauberern, Hellsehern, Kristallen und dergleichen? – Du bist viel mehr, als sie ...! Statt dir das zu nehmen, leckst du alte Wunden ...“
Die Worte des Holzes klangen nach, wie fernes Echo. Für einen Augenblick dachte Elisabeth, sie habe geträumt, doch die Worte ließen sie nicht los. Plötzlich fiel ihr auf, wie friedlich dieser Ort war, der alte Baum, unter dem sie saß, mit seiner rissigen rauen Borke und dem dichten grünen Kronendach, das nur an wenigen kleinen Stellen etwas vom Blau des Himmels erahnen ließ. Sie hatte diesen Baum mit seinem knorrigen dicken Stamm in ihr Herz geschlossen.
Obwohl die Kristallkugeln noch viel in ihrem Kopf schwirrten, gab sie es doch auf, weiter mit Samos` Techniken zu experimentieren – vielleicht ergab es sich ein anderes Mal, dass es ihr wieder besser zugänglich wäre. So beschränkte sie sich darauf, eine alte Gewohnheit wieder aufzunehmen und sich an irgendeinem Ort der ihr gefiel, in aller Stille hinzusetzen – mit dem Wurzelholz in ihren Händen. Schon früher hatte sie stundenlang so sitzen können, ohne dass ihr dabei langweilig geworden wäre.
Zu den Dorfbewohnern war sie mehr und mehr in Kontakt gekommen. Gelegentlich bändelten einige Jungen mit ihr an – sie hatte sich daran gewöhnt, dass sie sich bewundernd nach ihr umsahen, wenn sie durch das Dorf ging und es gefiel ihr sogar. Das ein oder andere Mal hatte sie sich einladen lassen, war auch einmal mit einem spazieren gegangen, aber nach einer Liebschaft stand ihr nicht der Sinn. Nicht, dass ihr die Jungen nicht gefallen hätten, im Gegenteil! Es war eher so, dass sie nicht bereit war, sich auf eine tiefere Bindung zu ihnen einzulassen. Eine solche Beziehung war nicht das, was sie im Augenblick suchte, was sie in dieser Zeit brauchte. Alles was sie brauchte, fand sie in der Freundschaft zu Margo – jedenfalls fast alles, und natürlich bei Angela.
Ihr Kontakt zum Pastor beschränkte sich vor allem auf die Mahlzeiten. Auf die Mahlzeiten und die gelegentlichen Gespräche am Abend. Wie es schien war er mit seiner Arbeit in der Gemeinde sehr eingebunden. Sie hätte nie geglaubt, dass ein Pfarrer so viel zu tun haben könnte. Er erzählte gern und manchmal fand er ein Buch, das er ihr zu lesen empfahl. Sie las viel. Einige Bücher verschlang sie regelrecht. Er hatte nicht wieder versucht mehr von ihr zu erfahren, war nicht noch einmal in sie gedrungen, ihn als ihren Seelsorger zu betrachten und Elisabeth hatte ihm ihrerseits nichts weiter erzählt. Aber sie lernte ihn immer mehr schätzen. Sie respektierte ihn auf ihre Weise und manchmal erinnerte er sie an ihren Vater ... und auch an Samuel, der so gerne gelesen hatte ...
Sie hatte sich angewöhnt mit Angela regelmäßig die Sonntagsmesse zu besuchen, etwas, dass sie seit ihrer Kindheit nicht mehr getan hatte. Nach ihrem letzen traumatischen Erlebnis damals, mit dem heimischen Geistlichen, hatte sie sich strikt geweigert und ihre Mutter hatte sie nie wieder bewegen können, so sehr sie anfangs auch tobte. Was hatte sie nun ausgerechnet in den Schutz der Kirche geführt? Ganz gleich, was es auch sein mochte, sie konnte erkennen, dass sich ihre Einstellung mehr und mehr veränderte, ihre Ängste und die Ablehnung gegenüber Kirche und Pfarrer aufweichte und relativierte, je länger sie hier war. Konnte es sein, dass hier auf verschiedenen Ebenen Heilung geschah?
„Woher kennst du den Pfarrer aus der Stadt?“, fragte sie eines Abends, wenige Tage vor seinem Besuch.
„Das ist eine alte Geschichte“, antwortete er. „Wir haben uns vor etwa 20 Jahren auf Exerzitien kennen gelernt. Es war in Sonnenwinter. Er hatte gerade mit dem Studium der Theologie begonnen und ich war frisch gebackener Priester ... Dort sind wir Freunde geworden.“
„Er muss noch sehr jung gewesen sein“, bemerkte Elisabeth, „er ist doch noch gar nicht so alt!“
„Ja, das war er. In der Tat. Genau genommen ist er im Kloster aufgewachsen. Einer der Mönche hatte ihn wohl irgendwo aufgelesen, als er noch keine 8 Jahre alt war. Seine Eltern waren bei einem Brand ums Leben gekommen und sonst hatte er niemanden. Also behielten sie ihn da und zogen ihn groß. Obwohl er das Kloster als sein Zuhause empfand, hat er nie das Mönchsgelübde abgelegt. Er empfing die Priesterweihe, trat aber nie dem Orden bei. Er hat mir nie erzählt warum – du hast ja wohl schon bemerkt, dass er sehr schweigsam ist.“
Elisabeth hörte interessiert zu. Sie sah Peter wieder vor sich, wie er neben ihr gesessen und sie hierher gebracht hatte, die Landschaft, durch die sie der Weg geführt hatte und das rhythmische Klackern der Hufe. Es hatte ihr gut getan und sie freute sich, dass sie ihn bald wiedersehen würde.
„Er ist lange auf Reisen gewesen. Wir haben uns gelegentlich geschrieben. In seinen Briefen pflegt er auch nicht viel gesprächiger zu sein, als mit seinen Worten – und doch fühlte ich mich ihm immer sehr verbunden.“
Elisabeth dachte an den Brief, den sie von ihm bekommen hatte. Ob es ihn Überwindung gekostet hatte ihr so viel zu schreiben?, denn dieser Brief war ganz und gar nicht wortkarg gewesen ... Vielleicht hatte er ihr einen Gefallen tun wollen. Sie merkte, wie ihr eine sanfte Röte ins Gesicht stieg. Ein prickelndes Kribbeln kroch ihren Rücken hinauf, und bescherte ihr wohlige Gänsehäute.
„Er hat wohl viel erlebt“, bemerkte sie, „und doch ist er noch so jung!“
„Die Reisen haben ihn verändert, besonders die letzte, von der er vor vier Jahren zurückkehrte. Ich weiß nicht, wie ich es dir beschreiben soll, aber so, wie du ihn kennst war er früher nicht. Er war viel unruhiger, immer ein wenig angespannt. Wirkte meistens ein wenig gehetzt.“
„Was hat ihn so verändert?“, wollte Elisabeth wissen.
„Er hat nie darüber gesprochen. Als ich ihn einmal direkt darauf ansprach, hat er mich nur angesehen und gelächelt.“
Elisabeth sah ihn ungläubig an.
„Ja!“, betonte der Pfarrer, „in gewisser Hinsicht ist er ein merkwürdiger Kerl, nicht wahr! Und doch scheint es niemanden zu geben, der sich seinem Charme entziehen könnte – wobei Charme nicht ganz das richtige Wort ist – auch du nicht, wie ich sehe.“ Er lächelte sie verständnisvoll an und Elisabeth wurde nun wirklich rot bis in beide Ohren. Sie stand ihr gut, diese Schüchternheit, die sie hin und wieder offenbarte, fand der Pfarrer, als er ihre erglühten Wangen bemerkte.
Die Nacht war wieder voller Träume. Die Erde unter ihr begann zu beben. Sie wusste, dass dies das Ende war, das Ende von dem hier ... Schon lange waren sie dabei gewesen, den alten Tempel zu zerstören, der hier auf diesem Hügel einst Ihr zu Ehren erbaut worden war, den Sie so viele Jahre bewohnt hatte, um die Menschen zu trösten und zu nähren, die zu Ihr kamen – und es waren nicht wenige, die Ihre Hilfe gesucht hatten. Tag für Tag, Jahr für Jahr waren sie hierher gekommen. Doch nun hatte sich ein anderer Glaube durchgesetzt, der keinen Platz mehr ließ für andere Wahrheiten. Sie hatte es geahnt, als es nötig wurde, dass Er kommen würde, um eine neue Energie in diese Welt zu bringen. Sie hatte gewusst, dass sie nicht unterscheiden konnten. Sie waren noch nicht so weit – die meisten jedenfalls nicht. Sie würden noch lange lernen müssen, bis sie endlich verstanden, dass es keinen Unterschied gab, bis sie wieder wussten, wer sie waren ... Und Er würde ihnen helfen, hatte bereits so viel für sie getan! Würde ihnen helfen einen nächsten Schritt zu tun ... Sie hätte niemandem hier den Sinn erklären können. So würde Sie denn künftig auf andere Art wirken ... und dennoch würde Sie für immer die sein, die sie schon immer war, unendlich, ewig in ihrem Sein.
Heftig dröhnten die Hammerschläge. Die Erschütterungen des Rammbocks ließen das Gebäude erbeben. Die Wände hatten bereits Risse bekommen und begannen zu bersten. Es dauerte nicht lange, dass die ersten Brocken fielen. Sie stand in ihrer weißen Tunika und rührte sich nicht, als der Tempel über ihr zusammenstürzte und sie in Schutt und Asche begrub. Sie wusste, dass Sie, der sie so lange gedient hatte, sie nicht im Stich lassen würde. Doch sie merkte, dass unversehens eine unbändige Wut in ihr aufstieg. Wut über den Unverstand der grölenden Massen, die vor Begeisterung tobten, als das Gebäude endlich in sich zusammenfiel. Und in diesem Moment, kurz bevor sie ihren Körper verließ, schwor sie bittere Rache gegen all die, die Seine und Ihre Worte so missverstanden hatten, die in ihrer Blindheit zerstörten, was zusammengehörte und Ihre liebende, nährende Essenz mit Füßen traten, den Wohnsitz der Göttlichen Mutter.
Elisabeth erwachte. Der Mond schien hell und warf gespenstische Schatten. Schon wieder dieser Traum! Was hatte er nur zu bedeuten? Begann ihre Welt um sie herum zusammenzubrechen wie in diesem Traum? Stand er in irgendeinem Zusammenhang mit ihrer Reise, mit ihrem Ziel, das sie nicht wirklich kannte, mit irgendeinem Ereignis ihrer Vergangenheit oder Zukunft? Seit einigen Tagen immer wieder dieser Traum! Hatte sie bei Samos doch zu viele Geschichten gelesen? Was für ein Glück, dass morgen Peter aus der Stadt zu Besuch kommen würde. Mit ihm würde sie darüber sprechen können.
Peter wollte zwei Tage bleiben. Elisabeth hatte ihn freudig begrüßt, so als wäre er bereits ein alter Bekannter und auch er hatte sich ganz offensichtlich gefreut, sie zu sehen.
„Ich habe viel an dich gedacht!“, hatte er sie begrüßt. Mehr sagte er nicht, aber Elisabeth wurde ganz warm. Schöner hätte er sie mit allen Worten der Welt nicht empfangen können! Später, als sie ihm erzählt hatten dass sie hier nun Kybele hieße, meinte er zustimmend:
„Alte Mythologie. Ein schöner Name; du hättest dir keinen besseren aussuchen können. Er passt zu dir, weißt du das?“ Elisabeth hätte ihn gern noch dazu befragt, doch das Gespräch hatte einen anderen Verlauf genommen. Sie war erstaunt, wie wenig Peter wie ein Priester wirkte. Doch wie hatte ein Priester überhaupt zu wirken? Ihr wurde bewusst, dass sie nicht allzu viele Pfarrer kannte – sie war ihnen ja immer aus dem Weg gegangen, seit damals. Und doch, sie war auf ihrer Reise immer wieder Pfarrern begegnet und immer hatten sie diese typische Ausstrahlung gehabt, etwas, dass sie nicht recht erklären konnte, das aber bei Peter ganz anders war. Er war so authentisch, so schlicht, so voller Herzenswärme und er strahlte eine innere Kraft und Ruhe aus, die, ja die ..., die auf Wissen schließen ließ. Nicht das, was man üblicher Weise darunter verstand, sondern etwas viel Elementareres. Solch einem Menschen war sie noch nie begegnet. Sie versuchte so viel wie möglich in seiner Nähe zu sein und sie ertappte sich dabei, wie sie eifersüchtig auf den Dorfpfarrer wurde, dass der ihn ihr so oft entführte. Doch was wollte sie, schalt sie sich. Schließlich waren die beiden alte Freunde und Peter war extra hierher gekommen, um seinen Freund zu besuchen. Als ihr bewusst wurde, dass sie ein wenig gehofft hatte, er käme um sie zu besuchen, ärgerte sie sich. Wie hatte sie so albern sein können!
Beim folgenden Abendessen war sie sehr still. Sie fühlte sich verletzt und das wurmte sie. Als sie ihm später auf dem Flur begegnete, hielt er sie kurz an und sagte:
„Morgen habe ich mehr Zeit für dich, Kybele! Sollen wir einen Spaziergang zusammen machen?“ Elisabeth fühlte wie ihr Herz klopfte. Ihre Augen leuchteten, als sie freudig antwortete:
„Ja, sehr gerne! Ich freue mich darauf.“
„Gut, dann nach dem Frühstück. Ich freue mich auch!“
Elisabeth begann zu schwitzen. Sie schlug die Augen nieder. Plötzlich war es ihr peinlich, dass sie allzu offen ihre Begeisterung hatte merken lassen.
Als sie allein in ihrem Zimmer war, beruhigte sie sich langsam wieder. Aber was war nur mit ihr los? Man könnte denken, ich wäre verliebt, schoss es ihr durch den Kopf. Seit Tagen dachte sie nur noch an Peter, gestand sie sich ein. Und wenn er in ihre Nähe kam, wurde ihr ganz warm! Sie war noch nie verliebt gewesen – zumindest nicht richtig. Außer vielleicht damals, in dem Dorf, als sie die kranke Frau des Bauern gepflegt hatte. Dort war sie oft mit einem Jungen vom Nachbardorf zusammen gewesen. Sie hatte ihn nicht gerne verlassen, aber nachdem die Frau des Bauern wieder gesund war, zog es sie weiter, wie so oft. Nein, aber damals hatte sie nichts Ähnliches empfunden wie jetzt! Ihr Bauch kribbelte, als tanzten dort tausend Schmetterlinge und wenn sie die Augen schloss, erschienen dort die wundersamsten bunten Bilder von Blumen, in denen die Bienen ihre Lieder summten. Sie nahm ihr Kopfkissen in den Arm und bewegte sich in tanzenden Kreisen durch das Zimmer. Schwärmend erinnerte sie sich an einen Roman, den sie kürzlich gelesen hatte.
Es dauerte lange, bis sie zur Ruhe fand, aber dann fiel sie endlich in traumlosen tiefen Schlaf.
Wie verabredet begaben sich Elisabeth und Peter nach dem Frühstück auf den Weg. Elisabeth wusste nicht, was sie sagen sollte. Da hatte sie sich so darauf gefreut, mit ihm allein zu sein, hatte so vieles zu fragen und zu erzählen gehabt und nun wusste sie nicht, wie sie beginnen sollte. Sie spazierten den Bach entlang, der durch den Ort führte, vorbei an der Mühle, wo sie eine Zeitlang verweilten und dem Wasserrad zusahen, das mit Klacken und Rauschen seine Arbeit versah. Die Müllerburschen grüßten, und ließen sich gerne durch einen kurzen Wortwechsel von ihrer harten, staubigen Arbeit abhalten, so lange, bis sie der Müller in seiner etwas mürrischen Art wieder ans Werk rief. Dann folgten sie weiter dem Wasser, hinaus durch die Wiesen und Felder. Elisabeth bemerkte erstaunt, wie ihre Aufregung mehr und mehr verschwand, so als trüge sie der Fluss des Wassers mit sich fort. So fand sie schließlich den Mut und erzählte ihm von ihren Träumen der vergangenen Nächte. Als sie geendet hatte, schwieg er eine Weile. Dann sagte er:
„Es ist der Tempel der Kybele, so scheint es mir. Er stand einst auf dem Vatikan, bevor der Petersdom dort erbaut wurde. Schließlich haben sie ihn zerstört und ihre neue Kirche darauf errichtet ... Was du im Traum erlebt hast, ist die Zerstörung des alten Tempels. Du hast dir deinen Namen wohl nicht ganz zufällig gewählt, nicht wahr?“
„Ich weiß nicht ... Aber was bedeutet der Traum?“
„Ich glaube nicht, dass er in dem Sinne etwas bedeutet. Es ist wohl eher eine Erinnerung, als ein Traum. Deine eigene, oder die eines Menschen, dem du sehr nahe stehst ... Vielleicht auch einfach Teil des kosmischen Allbewusstseins ... Du bist Ihr sehr verbunden und das hat dich diesen Namen finden lassen. Gib ihr die Ehre und überlasse dich ihrer liebevollen Führung. Das ist das Beste, was du tun kannst – ein großes Privileg ...!“
Elisabeth hatte das Gefühl, als mache seine Stimme sie trunken. Sie war verwirrt und die Bilder, die ihr durch den Kopf zogen während er sprach schienen ihr gleichzeitig fremd und bekannt.
„Wer ist sie? Als der Pfarrer sie erwähnte, habe ich sie einfach für eine Legende gehalten, eine der üblichen heidnischen Götter!“
„Warum sagst du das so abfällig? Hast du nicht selbst genug Schwierigkeiten mit diesem Glauben? Sie ist die Urmutter, der Mutteraspekt des Göttlichen“
Was wusste er von ihrem Glauben?
„Sie ist die eigentlich Schöpferische, aus der heraus alles geboren wird. Sie ist der Schöpfer dieser Welt!“
Elisabeth war erstaunt, ihn so reden zu hören. Das hatte sie nicht erwartet. Er, ein christlicher Priester! Irgendwie war ihr etwas schwindelig.
„Du wunderst dich, dass ich das sage“, nahm er ihre Gedanken auf. „Weißt du, alle Konzepte über Gott sind falsch! Es gibt nur Gott! Sobald die Menschen den Namen Gott aussprechen, begrenzen sie ihn auf ungerechtfertigte Weise. Es gibt kein Ihn, es gibt keine Sie, es gibt kein Es. Gott oder Göttin, das ist reines Sein ... Ein unglückliches Wort – ich weiß, doch alle Namen, die die Menschen ihm/ihr gegeben haben, sind nur ein recht kläglicher Versuch, das zu benennen, das zu beschreiben, was mit Worten und Gedanken nicht erfasst werden kann. Um es aber in einen bekannten Begriff unseres Alltagsverständnisses zu bringen, würde ich vorziehen, es als „Sie“ zu bezeichnen. Doch das ist bei uns nicht die übliche Sichtweise. Frauen sind die primär Schöpferischen, auch wenn ihnen leider meist nicht die gebührende Anerkennung zuteil wird. Bedauerlicher Weise sind die Frauen daran selbst mit Schuld, denn sie nehmen es nicht ... Wie auch immer ... wenn du tief aus deinem Herzen heraus verstehst, werden Worte unnötig.“
Wie redegewandt dieser sonst so schweigsame Mann sein konnte! Er hatte seine verborgenen und offensichtlich auch geheimnisvollen Seiten.
„Manchmal, wenn jemand bereit ist, mit offenem Herzen zu hören, können sie Türen öffnen ... Hörst du ...!! Kybele!!“
Ihr war, als fiele sie plötzlich in ein Loch. Alles um sie herum verschwand. Eine nie gekannte Stille! Es war eine Stille voller Klang, ein Nichts, so voll ... Es war nur ein winziger Augenblick, doch er war von so tiefen Empfindungen begleitet, dass es ihr die Sprache verschlug. Ihre Beine zitterten. Sie schaute Peter an, der sie wohlwollend betrachtete. Er machte einen Schritt auf sie zu und nahm sie sanft in die Arme. Sie beruhigte sich.
Schließlich gingen sie schweigsam weiter den Bach entlang.
„Du möchtest sicher erfahren, was ich wegen eurer Sachen erreicht habe“, begann Peter, nachdem sie eine ganze Weile ohne ein Wort gegangen waren.
„Nachdem eure Festnahme bekannt geworden war und dann deine Flucht, wurde der Wagen geplündert. Nichts außer einigen unbedeutenden Kleinigkeiten ist übriggeblieben.“
Elisabeth war enttäuscht.
„ ... und doch waren meine Bemühungen nicht ganz ohne Erfolg“, fuhr er fort. „Vor wenigen Tagen kam ein Mann aus meiner Gemeinde nach dem Gottesdienst zu mir. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er nicht hatte widerstehen können, für billiges Geld Hehlerware zu erstehen. Er war sehr aufgeregt. Seit er diese Ware erworben hatte, plagten ihn unheilvolle Träume und es tat ihm leid. Er bat mich um Rat. Nachdem ich Näheres erfahren hatte, konnte ich ihm versprechen, dass ich den Eigentümer, bzw. dessen rechtmäßigen Erben kenne und gerne bereit wäre, dafür zu sorgen, dass der sein Erbe zurückbekäme.“
Elisabeth hörte gespannt zu. Sie fragte sich, um was es sich wohl handeln könnte. Es musste doch allem Anschein nach etwas aus Samos` Besitz sein. Vielleicht seine Taschenuhr – doch hatte er die nicht bei sich gehabt?
„ ... hier ist ein schöner Platz“, unterbrach er sich selbst. „Wir wollen hier ein wenig bleiben und es uns gemütlich machen.“
Drei große Trauerweiden standen am Ufer, zwischen denen man eine Bank aufgestellt hatte. Sie setzten sich. Elisabeth war noch nie hier gewesen. Es erinnerte sie an die Weide an ihrem Bach zu Hause, dort, wo sie mit der Schlangenmutter gesprochen hatte.
„Ich will dich nicht länger auf die Folter spannen – du platzt ja fast vor Neugier! Auf diese Weise kam ich in Besitz eines Kleinods, dass du, wie mir scheint, sehr gut kennst, und das ich dir hiermit übergeben möchte. Ich glaube, wenn jemand Anspruch darauf hat, dann bist du es!“
Er griff in die Tasche seiner Jacke, die er, mit einer Hand am Kragen, lässig über der Schulter getragen hatte. Er zog einen in Samt gewickelten rundlichen Gegenstand hervor. Er reichte ihn Elisabeth, die sofort wusste, was es war, als sie es in den Händen hielt.
„Ist das möglich?“, seufzte sie glücklich und die Tränen liefen ihr über die Wangen. Mit zitternden Fingern wickelte sie es aus, dann hielt sie die Kristallkugel zur Sonne, so dass sie in allen Farben des Regenbogens glitzerte und glänzte. Auch Peter war beeindruckt von dieser Farbenpracht und diesem Glanz.
„Es ist schön, dass ich dir diese Freude machen kann!“, sagte er gerührt. Er nahm ihre Hand und drückte sie. Elisabeth wusste nicht, worüber sie glücklicher war, über die Kristallkugel oder seine Berührung. Sie rückte näher an ihn heran, dann kuschelte sie sich wohlig an ihn, während er seinen Arm um sie legte und sie zart an sich drückte. Die Zeit schien still zu stehen und keiner von ihnen hatte mehr ein Gefühl dafür, wie lange sie so zusammensaßen. Es hätten Ewigkeiten sein können und die ganze Welt hätte über ihnen zusammenstürzen können, ohne dass sie es gemerkt hätten. Als Elisabeth schließlich zu ihm aufsah, hatte er Tränen in den Augen.
„Was ist mit dir?“, flüsterte sie. „Ist es nicht wunderbar!“
„Ja, wunderbar“
„Aber du weinst!“
„Kann nicht auch das Weinen wunderbar sein, Kybele?“
„Doch, das kann es“, stimmte sie ihm zu. „Aber was lässt dich weinen ...? Ist es das Glück, dass wir zusammen sind oder ist es die Trauer, dass es keine Dauer haben wird?“
„Beides, Kybele, beides ...“
Sie seufzte aus tiefstem Herzen, dann schwiegen beide wieder für eine lange Weile. Es war, als verschmolzen ihre Körper, ihre Seelen ... Im Hintergrund das Sirren der Grillen. Bienen umtanzten die Blüten des Blutweiderich am Wasser und hin und wieder das Quorren und Räkäkäck der Teichfrösche ...
„Danke, dass du Wort gehalten hast“, hörte Elisabeth sich sagen und sie fragte sich, woher sie all das auf einmal wusste.
„Hast du daran gezweifelt?“, erwiderte er.
„Nein“, meinte sie. „Nur alles vergessen – wie jedes Mal ... und du weißt, wie unergründlich die Wege sind, wenn wir einmal hier sind!“
„Ja, das weiß ich und ich freue mich, dass auch du es nun weißt ... Und ... ich weiß auch, dass ich immer für dich da sein werde, wenn du mich brauchst – auf die eine oder andere Weise. Seit damals, als ich dich aus den Trümmern barg. Sollten wir auch noch so unterschiedliche Wege gehen!“
„Wann hast du mich erkannt?“
„Es hat niemals Zweifel gegeben ... und du?“
„Soeben erst ...“
Wieder schwiegen sie für die Unendlichkeit
„So weißt du es jetzt ..., doch die Erinnerung wird wieder verblassen ...“
Elisabeth seufzte.
„Ja. Werde ich es diesmal schaffen?“
„Ja.“
Sie rückten enger zusammen und Elisabeth ließ sich weiter in dieses Gefühl hineinfallen. Ihr Körper dehnte sich aus, überwand endgültig diese kleine Grenze von Innenwelt und Außenwelt, die schon vorher so blass geworden war. Die Zeit, die für sie eine Weile nicht mehr existierte, strich dahin ...
Ein Blitz zerriss den Himmel, dann ein Donner.
„Wir müssen gehen“, sagte sie.
„Wie schade“, antwortete er.
Sie erhoben sich und begaben sich auf den Rückweg. Wieder zuckte ein Blitz. Dicke Wolken zogen am Horizont auf und es dauerte nicht lange, dass sie den ganzen Himmel bedeckten. Welch ein Wunder, dass sich hinter den dichtesten, schwärzesten Wolken ein strahlender blauer Himmel ausbreitet und die Sonne scheint! Dicke Tropfen fielen und bald jagte ein Blitz den anderen. Welch ein herrliches Schauspiel!
Als Elisabeth und Peter das Pfarrhaus erreichten, war es Abend. Sie waren klatschnass, doch war es ihnen lange Zeit nicht so gut gegangen.
Nach dem Abendessen trafen sie sich noch einmal in der Bibliothek. Elisabeth hatte den Kristall mitgebracht.
„Nimm du ihn bitte an dich“, sagte sie zu Peter. „Ich habe im Moment keine Verwendung für ihn ... Bewahre ihn bitte gut für mich auf. Wenn es an der Zeit ist, werde ich kommen und ihn holen.“
Sie reichte ihm den Stein, gab ihm einen Kuss und hauchte: „Danke, danke für deine Treue!“
Dann ging sie in ihr Zimmer, wo sie bis zum anderen Morgen schlief.
Nach einem gemeinsamen Frühstück mit den anderen, machte sich Peter für die Abreise fertig. Still sah Elisabeth der fahrenden Kutsche nach, wie sie das Gelände der Pfarrei verließ und bald in der Ferne der Birkenallee verschwand. Sie hatte sich verändert. Angela und der Pfarrer merkten es, obwohl sie nicht sagen konnten, welcher Art diese Veränderung war. Elisabeth war traurig wegen der Trennung von diesem Menschen, mit dem sie schon so vieles verband. Aber diese Trauer war anders, als jede Traurigkeit die sie früher erlebt hatte. Es lag etwas Kraftvolles darin, auch etwas Friedvolles, etwas Gewisses, Unerschütterliches, das sie trug.
Sie bat Angela und den Pfarrer spazieren gehen zu dürfen. Die beiden hatten nichts dagegen. Elisabeth wollte allein sein und in der Natur die Stille genießen, die in ihr war, frei von aller Geschäftigkeit und Ablenkung. Sie wollte noch einmal dem nachhorchen, was sie gestern erlebt hatte und was immer noch in ihr schwang. Sie ahnte, dass ihr vieles bald nicht mehr so greifbar sein würde – flüchtig war wie der Duft des Flieders, den ein Windhauch ins Zimmer wehte.
Was war es noch genau, das sie mit Peter verband? Sie wusste nur noch, dass sie eine sehr alte Beziehung hatten. Eine Beziehung, die weit über den Beginn dieses Lebens zurückreichte. Gestern war alles plötzlich so klar gewesen, ganz deutlich, es hatte keine Fragen mehr gegeben. Heute nur noch die wohlige Gewissheit, die innere Ruhe und Gelassenheit, dass es gut war, alles! Wie flüchtig der Duft war, wenn die Blüte verwelkte ... Ihr Bauch hatte sich ausgedehnt, war voller geworden und erlaubte ihr mehr in sich zu ruhen ... Ja, selbst wenn ihr das Wissen von Gestern nicht mehr in all dem Umfang zugänglich war, hatte es sie erfüllt, gab es ihr die Gewissheit, dass sie geführt wurde, auch wenn sie nicht wusste wohin.
Die folgenden Nächte waren angefüllt mit Träumen. Die meisten vergaß sie wieder. Auch tagsüber fühlte sie sich unruhig und war oft gereizt. Warum nun dies?, fragte sie sich. Warum wurde sie in solche Gegensätze geworfen? – Nach all dem Frieden. Hatte sie etwas falsch gemacht? Wer war sie? Und was tat sie überhaupt hier? Sie war losgezogen, ihren Bruder zu suchen, für dessen Verschwinden sie sich irgendwie verantwortlich fühlte. Aber sie hatte immer öfter den Eindruck, als sei das längst nicht mehr der einzige Grund ihrer Reise. Ja, oft hatte sie ihren Bruder fast vergessen. War es das, was sich nun rächte?
Elisabeth, Tochter des Holzschnitzers Viktor und der Kräuterfrau Anna, aufgewachsen in der Einsamkeit des riesigen Waldes, den sie Bärensteig nannten. Sie konnte diese selbstverständliche Tatsache nicht mehr ohne weiteres bejahen ... Es war schon seltsam. Wer war sie? Wer war Peter? Was tat sie hier? Warum war ihrem Bruder so etwas Merkwürdiges zugestoßen und sie nach ihm auf die Suche gegangen? Fragen über Fragen. Sie konnte diese Fragen nicht klären, so sehr sie auch darüber nachdachte und dennoch konnte sie sie nicht verhindern – Vielleicht gerade weil sie mit Peter zusammen erlebt hatte, wie es ist, ganz und gar ohne Fragen zu sein!
Kybele! Sie hatte inzwischen so viele Wochen unter diesem Namen gelebt und irgendetwas verband sie offensichtlich damit, so dass sie sich entschloss ihn künftig beizubehalten. Von nun an würde sie Kybele heißen!
Sie nutzte jede freie Minute, um hinaus zu gehen. Meist nahm sie das Wurzelholz mit. Gelegentlich begleiteten sie Angela oder Margo. Die Spaziergänge zu den alten Bäumen – sie kannte sie inzwischen alle – taten ihr gut, auch die Gespräche mit Angela und Margo. Sie konnte ihnen nicht erklären, was sie beschäftigte; allein mit ihnen zusammenzusein und unbeschwert zu plaudern, half ihr, sich wohler zu fühlen. Sie liebte die schlichte Bildersprache der hiesigen Bäume und staunte immer wieder über deren Kraft und Energie. Wenn sie dazu aufgelegt waren, bekam sie gelegentlich einen Hauch ihrer seit Jahrtausenden gewachsenen Weisheit zu spüren. Obwohl sie weder von ihnen noch vom Wurzelholz eine Antwort auf ihre Fragen bekam, hatte sie den Eindruck, dass sie auf die eine oder andere Weise in ihrem Leben wirkten, fast als täten sie es heimlich, ohne große Worte darüber zu machen, so wie alle bedeutsamen Dinge anscheinend jenseits aller Sprache und Begriffe geschehen.
Sie erfuhr viele neue Dinge über Bäume. Zum Beispiel, dass man zwar äußerlich Bäume, die männlich oder weiblich, oder sogar beides waren unterscheiden konnte, dass das eigentliche Baumwesen aber völlig geschlechtslos war, ein „Es“, weder männlich, noch weiblich. Oder, dass Bäume Gruppenwesen ganz besonderer Natur waren: mehrere Bäume, ja ein ganzer Wald konnte zu ein und demselben Baumwesen gehören. Und die Bäume selbst entfernter Länder standen mit einander in Verbindung, tauschten ihre Erfahrungen untereinander aus. Eine faszinierende Welt.
Die Nächte waren am Schlimmsten, aber auch tagsüber befielen sie gelegentlich schreckliche Visionen. Visionen, die den nächtlichen Träumen ähnlich waren. Szenen eines Klosters, in dem sie das eine Mal gegen ihren Willen eingesperrt war und sich unglücklich quälte, ein anderes Mal als religiöse Eiferin und strenge Äbtissin ihre Mitschwestern leiden ließ. Szenen eines Feuers, in dem sie verbrannte – eine johlende Menge, die sich an ihren Qualen ergötzte. Dann wieder Szenen, in denen sie als Geistwesen mit verzweifelten fruchtlosen Bemühungen versucht, eine Menschenmasse zu ängstigen und zu vertreiben, die soeben einen Tempel dem Erdboden gleichmachten.
Eine ganze Reihe von Tagen und Nächten ging es so, dann war es von einem Tag zum anderen vorbei. Kybele ging gestärkt und verändert aus dieser Krise hervor. Mit neuer innerer Stärke und Gelassenheit auf der einen Seite, aber auch wie verjüngt, so als erhalte sie einen Teil ihrer Jugend zurück, die sie durch ihr Leben mit Samos und der abschließenden Tragödie verloren hatte – nein, nicht nur durch ihr Leben mit Samos, sondern bereits seit ihrem Entschluss diese Reise zu unternehmen, diese Reise, von der sie nicht wusste, wo die sie hinführen würde und wie lange sie dauern würde. Sie fühlte sich beschwingt und mädchenhaft, mehr noch, als es sich bereits bei ihrer Ankunft in diesem Ort angedeutet hatte. Wie vieles hatte sich doch ereignet in der letzten Zeit! Sogar ihr Verhalten und Empfinden, ja ihre ganze Sichtweise über Kirche und Pfarrer hatte sich heilsam verändert durch ihren Aufenthalt hier, in dieser liebevollen Pflege Angelas und des Pfarrers – ganz zu schweigen von Ihm ... Er ein Priester, ein christlicher Pfarrer! Wunden waren geheilt worden, fast wie von selbst ...
Obwohl es Gerüchte über zunehmende Unruhen im Lande gab, besonders aus der Stadt, genoss sie dieses unbeschwerte, lebendige Gefühl noch eine Zeitlang hier in diesem Dorf, hier im Hause des Pfarrers, bis sie sich schließlich innerhalb von wenigen Tagen entschloss weiterzuziehen. Eine innere Stimme lockte sie, das drängende Gefühl, nun weitere Dinge erledigen zu müssen und innere Bilder des Lernens, des Suchens und der Abenteuer.
Sie besorgte sich was sie für die Reise brauchte, tauschte – nicht ohne jede Wehmut – ihre hübschen Kleider gegen praktischere Wanderkleidung und schnürte sich das Bündel, wie sie es schon so oft getan hatte – wie lange schien das her zu sein!
Der Abschied war nicht leicht. Wie vieles verband sie bereits mit diesen Menschen hier! Sie wunderte sich, wie schnell sie sich hier zu Hause gefühlt hatte. Für den Pfarrer und Angela setzte sie eine Reise fort, von der sie nicht recht wussten, welcher Art sie war, für die Übrigen im Dorfe wanderte sie zurück nach Hause zu ihren Eltern. Außer Margo. Ihr hatte sie schließlich die ganze Geschichte erzählt und die war es auch, die sie schließlich bis zum nächsten Dorf begleitete, wo Verwandte von ihr lebten. Dann trennten sie sich nach einer langen herzlichen Umarmung und nachdem Kybele versprochen hatte, sie wieder zu besuchen.
***
Kybele
..... .... Mit starrem Blick schaute sie durch die Gitterstäbe des kleinen Fensters. Der Wind spielte mit den Blättern, die der frühe Herbst in den tristen Innenhof geweht hatte, trieb sie in eine Ecke, wo sie sich gegenseitig in Kreisen jagten, wie einer plötzliche Eingebung folgend in einer Spirale nach oben stoben, um ebenso unvorhergesehen wieder hinabzufallen und fast reglos liegen zu bleiben, bis ein weiterer Ansturm das Spiel von neuem begann.
Sie war blass. Die dunklen Augen lagen tief in den Höhlen. Ihr Körper schmerzte von den vielen Misshandlungen. Nur ihr goldenes Herz nicht. Sie hatten sie gequält, weil sie nicht sprach. Sie konnte nicht. S i e hatten ihr die Sprache gestohlen. Sie wusste nicht warum. Dabei hatten sie doch jeden ihrer Gedanken hören können ... ja ... jeden ihrer Gedanken!
Sie hatte ihre Aufgabe so gut erfüllt! Bis zu diesem verhängnisvollen Tag, an dem ihre Gedanken begonnen hatten, sich immer weiter auszudehnen und so unerträglich laut geworden waren. Wenn sie durch die Straßen ging, hatten sich bald alle Leute nach ihr umgeschaut ... Hihihi ... sie musste kichern, trotz der Schmerzen. Auch der Kardinal hatte sie schließlich gehört. Aber es war zu spät gewesen. Ihr Zauber hatte lange genug gewirkt, um ihn zu blenden. Und nun wussten alle, was für ein sündiger und lasterhafter Mensch er war – gewesen war, denn er hatte sich selbst erhängt, nachdem sie ihn nackt mit ihr zusammen auf dem Altar entdeckt hatten ... Ja, sie hatte es verstanden, seine Leidenschaft zu entfachen. Es war ein Leichtes gewesen, nachdem sie ihn lange genug beobachtet hatte, um von seinen kleinen Entgleisungen zu erfahren – und auch von seinen größeren. Bald war er so weit gewesen, den Verstand zu verlieren, wenn er sie sah, wenn er sie roch. Eine machtlose, rasende Leidenschaft, in der er sich nicht mehr in der Gewalt hatte, nicht mehr wusste, was er tat. Was auch immer sie von ihm verlangte, er folgte ihr. Haltlos, lechzend nach der Erlösung, von der er nicht wusste, dass sie ihn nur noch mehr fesseln würde und in Leidenschaft verstricken würde ... Sie hatte ihn zerstören wollen und sie hatte ihr Ziel erreicht. Wie bei so vielen anderen auch! Sie kannte viele Methoden einen Menschen zu vernichten. Gesundheitlich, persönlich, gesellschaftlich – alle waren sie ruiniert worden und irgendwann würde diese ganze verfluchte Kirche am Ende sein. Zerstört, vernichtet, dem Erdboden gleich, wie eine feindliche Burg, die man schleifte, wie einst den Tempel der Kybele! Dann würde sie endlich Ruhe finden. Das hatten die Stimmen ihr versprochen, die von ihr Besitz ergriffen hatten. Nur ihr Herz, ihr goldenes, das hatten sie ihr nicht nehmen können ... Sie fasste sich an die Brust. Dort, wo einst die Fingernägel gewesen waren, befanden sich nun blutige Krusten. Sie war dem Inquisitor in die Hände gefallen! Die Kirche wollte sie zerstören. Wie immer schon. Doch sie würden es nicht schaffen. Sie würde ihnen entfliehen, auf die eine oder andere Weise. Was auch immer sie ihr an Leid noch zufügen mochten. Ihr Herz würde weiter leben. Denn sie war die Auserwählte! Der Kampf würde weitergehen, bis sie gesiegt, das Unrecht gerächt hätte. Welches Unrecht? Das wusste sie nicht mehr so genau ... Oh, diese Verfluchten, sie stahlen ihr ihre Gedanken, schlichen sich schon wieder heimlich bei ihr ein, weil sie hier gefangen war. Sie erinnerte sich nur, dass sie Feinde waren. Feinde, solange sie denken konnte. Feinde, aus unendlicher Zeit, wie es schien. Die Kirche verfolgte sie und sie ihrerseits tat alles, um ihre Würdenträger zu vernichten ... Sie besaß viele Waffen ... Sehr viele! Und es lag ganz bei ihr, wie sie sie einsetzte. Sie hatte ihre Fähigkeiten schon früh bemerkt, die sie anders sein ließen, als die meisten anderen Menschen. Schon als Kind war es ihr ein Leichtes gewesen, Menschen zu heilen – oder auch leiden zu lassen. Damals hatte sie es noch geliebt zu helfen. Alle hatten sie geliebt ... Heute zog sie es vor, zu zerstören, weil sie ihren wahren Auftrag erkannt hatte.
Sie schaute auf ihre blutigen Finger mit den harten Krusten und richtete ihre Aufmerksamkeit nach innen. Sie schloss ihre Augen, und bald spürte sie, wie ein sanftes Kribbeln durch die Hände floss. Dieses Kribbeln wurde stärker und stärker. Sie merkte, wie geschwächt sie von der langen Tortur war. Es kostete sie Kraft. Sie verlor das Gefühl dafür, wie viel Zeit verging, aber als sie die Augen öffnete, waren die Wunden der Finger verheilt. Sie besah sie sich. Früher wären auch die Nägel bereits nachgewachsen gewesen, dachte sie ...
Sie schleppten sie fort, zerrten sie auf den Wagen, der rumpelnd durch die Straße fuhr. Die Hände auf den Rücken gebunden. Die Straßen waren voll von Schaulustigen, die winkten und schrieen. Und das Gedränge und Gejohle wurde immer heftiger und lauter, je näher sie dem Marktplatz kamen. Alle konnten sie ihre Gedanken hören und sie wussten, dass sie nichts bereute! Jeder von den vielen Würdenträgern hatte es verdient gehabt! Warum hatten die sie verfolgt ... immer hatten die sie verfolgt. Und sie waren schwarz, so schwarz ... Sie kannten das Helle und das Licht nicht, würden nie von ihrem goldenen Herzen wissen ... doch sie hörten ihre Gedanken ... sie musste aufpassen, was sie sagte ... Doch nun war es so wie so egal. Sie wusste, was geschehen würde, es war egal! Sie würden sie ein letztes Mal quälen. Und all diese Menschen würden sich daran ergötzen, dieser Pöbel ... Wie damals als sie den Tempel zerstörten ... welchen Tempel? Sie hasste alle Tempel, alle Kirchen, alle Dome und Kathedralen! Denn sie hatten sie verfolgt, gnadenlos, schon als kleines Kind ... als Kind ...? Waren ihre Gedanken wirre? Wann würden sie endlich aufhören in ihrem Kopf zu denken ...? Bald ... ja bald ... Dann würden auch die Stimmen schweigen. Oh, sie wussten nicht, was Liebe ist. Brenzlicher Geruch hatte begonnen die Luft zu erfüllen, während der Lärm der Menschen immer lauter wurde. Sie konnte sie alle sehen, konnte auf sie herunterschauen, wie sie da schreiend und gestikulierend standen, sich gegenseitig drängten und schubsten, um diesem Schauspiel möglichst nahe zu sein ... Das hatte es früher auch schon gegeben, bevor E r gekommen war ... Brot und Spiele ... Wie oft hatte sie das Geschrei vom Amphitheater hinauf schallen hören, dort, wo Sie ihren Wohnsitz hatte, ihren Tempel ... „Gaudeamuuus ...“
Sie konnte sich nicht mehr wehren. Die langen Torturen hatten ihre letzte Kraft geraubt. Sie hatte es gewusst, als sie ihre Finger heilte und sich anschließend in diesen Zustand versetzte, der sie benebelte - ein letzter Liebesdienst den sie sich selbst erwies. Doch wozu? Sie begann zu husten. Der Qualm hüllte sie mehr und mehr ein und sie konnte die Hitze der Flammen bereits spüren. Eine leise Angst begann in ihr Bewusstsein zu dringen, kroch ihr langsam die Beine hoch, die begannen zu zittern. Warum musste ihr das geschehen? Warum würden sie schon wieder siegen? Warum siegten sie immer und immer und immer wieder, wie sehr sie sich auch anstrengte zu sühnen ... und dabei kannten sie die Liebe nicht. I h r e nicht und S e i n e nicht! Doch sie selbst? War es ihr nicht manchmal bereits vorgekommen, als sei ihr goldenes Herz verrostet? Wie viel von der alten großen Liebe, dem Licht und der mütterlichen Fruchtbarkeit und Ihrem Schutz war noch geblieben? Ihre Macht wuchs von Mal zu Mal ... doch ihre Liebe?? Ihr Kontakt und ihre Einheit mit I h r ?? Warum hatte S i e sie verlassen, damals, obwohl sie ihr doch all die Jahre treu gedient hatte? Bis zum Schluss noch, als alles über ihr zusammenstürzte ... Die Bilder begannen wieder in ihr hell zu werden, von damals, als man den Tempel der Kybele zerstörte. Sie erlebte es noch einmal, genau so, wie es gewesen war ... und auch all die Jahre zuvor ...
Ja, sie war die Priesterin der Kybele! Sie hatte ihr schon viele Leben lang gedient, bis sie schließlich ihre oberste Priesterin wurde. Vertreterin und Schützerin der großen Urmutter, Hüterin des Mineral- und Pflanzenreiches! Sie war eins mit I h r gewesen, bis zu jenem verhängnisvollen Tage ... als sie sich von allem trennte. In diesem Augenblick ihres Todes, der über alles entscheidet. Wie hatte es geschehen können, dass sie sich so wehrlos von Hass und Enttäuschung hatte fortreißen lassen? Dass sie von diesen übergroßen seelischen Schmerzen so sehr überwältigt war, dass sie in diesem entscheidenden Moment Hass und Rache an denen besiegelte, die in reiner Verblendung und Unwissenheit ihren Tempel zerstörten, und damit ihre Trennung von I h r und zahllose qualvolle Wiedergeburten in genau dieser Verblendung manifestierte, so lange, bis es ihr endlich, endlich wieder gelingen würde Ganzheit und Einheit zu erringen? ... Zum ersten Male seit damals konnte sie diese Zusammenhänge wieder erkennen, konnte sich daran erinnern, wer sie wirklich war! Tiefe Traurigkeit überfiel sie, während Tränen begannen ihre Wangen zu netzen. Weitere Bilder der Erinnerung an längst vergessene Zeiten stiegen in ihr auf. Ihre Zeit als Novizin, schon im Alter von sieben Jahren ... all die Jahre ihrer Schulung im Tempel. Und ihre Weihe zur obersten Tempelpriesterin ...! Die Liebe zu dem Gladiatoren, der sich gegen sein Schicksal aufgelehnt hatte und bei seiner Flucht im Tempel Unterschlupf fand, wo sie ihn eine Zeitlang verbarg und schützte, seine Wunden pflegte und sie heilte. Cornelius! Wie sie sich nach und nach kennen und schätzen lernten – und lieben, auf ihre eigene Art! Ihre gemeinsamen Spaziergänge durch den Tempelgarten, seine Stimme, seine Kraft, sein Geruch. Abende im Sonnenuntergang mit Blick auf Rom ... Und wie sie sich schließlich ewige Treue versprachen ... Er sie später fand, unter den Trümmern, und ihren Leichnam nach alter Tradition der Göttin übergab – tiefe Wehmut in seinem Herzen, während sie bereits merkte, wie es sie mit der unaufhaltsamen Macht eines kosmischen Wirbels hinfort schleuderte, einer unbekannten Zukunft entgegen ....
Später dann ... Wiedergeburt auf Wiedergeburt, mit den wahnwitzigsten Irrungen und Verwirrungen eine Freveltat zu sühnen, der sie sich selbst nicht mehr bewusst war. Mal als Täter, mal als Opfer. All diese Leben, in denen ihre Seele verzweifelt versuchte, wieder Ganzheit zu erlangen, mit unbekannter Sehnsucht, Verzweiflung, Hass. Und immer spielte auf die ein oder andere Weise ein Mann eine Rolle, den sie nie erkannte. Nun konnte sie ihn sehen. Der Gladiator hatte Wort gehalten, wie sie es sich einst versprochen hatten, jedes Mal erneuert, wenn sie sich in der Unendlichkeit begegneten, vergessen und verkannt, wenn sie dann das Leben zusammenführte, Mal um Mal. Und diese Erkenntnis ließ sie nun zutiefst erschauern, während sie begriff, wen sie zuletzt auf so gemeine Weise in den Tod getrieben hatte – in ihrem Wahn! Auch das war er gewesen, der Kardinal, Cornelius! Es traf sie wie ein Schlag, als ihr klar wurde, auf welche Weise er sich für sie geopfert hatte. Der Schmerz über diese Bilder der Wahrheit drohte ihr Herz zu zerreißen. Er war viel schlimmer, als die zunehmende Atemnot, die ihr der Qualm verursachte, schlimmer als die brennenden Schmerzen, die die heißen Flammen inzwischen an ihren Füßen hervorriefen. Sie hatte alle Angst zu sterben hinter sich gelassen, bereit, diese Schmerzen als Sühne zu ertragen. Es gab keinen Hass mehr. Auch nicht denen gegenüber, die ihr nun dieses antaten. Sie wusste nun auf neue Weise, dass es niemanden gab, dem man hier etwas hätte antun können, wie groß ihre Schmerzen auch immer sein mochten. Und diese Schmerzen wuchsen, als das Feuer sich plötzlich mit züngelnden Flammen ihre Beine hinauffraß, sie den Geruch ihres eigenen verbrannten Fleisches in die Nase bekam – unerträgliche Schmerzen! Doch sie wusste, dass dieser Körper schon nicht mehr der ihre war, während sie sich ausdehnte, mehr und mehr, sich über dieses Feuer erhob, über diesen Platz, mit tiefem Mitgefühl für all die, die dort jubelten und sich an den Qualen dieses Körpers ergötzten, der sich wand und aufbäumte, während seine ersterbende Stimme schrie: „Kybeeleee ...!!!“ ... ...
© 2018-2021 www.bambusgarten.com