Glassners Vergeltung

Elmar Woelm


Inspektor Glassner schlug die Tür hinter sich zu, rannte auf den Parkplatz und versuchte den Wagen zu starten. Nun hatte er ihn endlich! Jetzt wäre er dran! Er musste sich beeilen. Zu oft war er ihm schon durch die Lappen gegangen. Die Zündung stotterte. Der Motor seines alten Käfers sprang nicht an. Er drehte erneut den Zündschlüssel. – Würgen, Stottern, ein kurzes Aufbrummen, dann wieder Ende. Der Wagen wollte nicht. Dieses verfluchte Wetter! Seit Tagen regnete es fast ununterbrochen. Jetzt nur das nicht! Aber die Nerven verlieren brachte auch nichts. Alles mit der Ruhe, sagte er sich, atmete tief durch und sandte ein Stoßgebet zum Himmel. Dann ein weiterer Versuch. Das gleiche Ergebnis. Verflucht! Er hämmerte mit der Faust auf das Lenkrad. Sollte er einen Streifenwagen anfordern? Nein, dass musste er alleine regeln. Schlimm genug, dass er bei dem Einsatz damals seine Partnerin verloren hatte. Nun würde er es auf seine Weise zu Ende bringen. Wie lange war das jetzt her? – Fast zehn Jahre! Stückchen für Stückchen hatte er an Indizien zusammengetragen.

Unwillig machte er die Wagentüre auf, zog den Kragen zum Schutz gegen den strömenden Regen über den Kopf und öffnete die Motorhaube. Ausgerechnet jetzt! Der Wind war eisig. Er fummelte am Zündverteiler, öffnete ihn und holte ein Taschentuch aus der Hosentasche. 

„Kann ich dich irgendwo hinbringen?“ Er schaute sich um. Er hatte den Wagen gar nicht kommen hören. Es war Nina, eine Kollegin von der Sitte. „Hey! Wo kommst du denn her? Du kommst wie gerufen. Der Alte streikt wieder einmal. Kannst du mich in die Senftergasse bringen? – Das wäre großartig.“ 

„Sherlock Holmes Tag und Nacht im Dienst, was? Komm steig ein! Bevor du völlig durgeregnet bist.“

Er knallte die Motorhaube des Käfers zu, riss die Beifahrertür ihres Alfa auf und saß schon neben Nina. 

„Keine schöne Gegend die du dir da ausgesucht hast“, meinte seine Fahrerin. „Kann man wohl sagen. Aber es ist wichtig. Gut, dass du zufällig vorbeigekommen bist“, fügte er bedeutsam hinzu. Er fragte sich, ob er ihr mehr erzählen sollte. Sie war damals dabei gewesen, als sie jene verhängnisvolle Razzia gemacht hatten. Er war damals bei der Drogenfahndung gewesen und sie hatten einen dieser totsicheren Tipps bekommen. Doch dann war alles schief gegangen. Die Bilder zogen, wie schon tausend Mal in all den Jahren, wieder an ihm vorbei. Seine Frau und damalige Kollegin war dabei ums Leben gekommen. Er hörte die Schüsse wieder durch die Luft peitschen, sah, wie sie bei jedem Schuss zusammenfuhr und schließlich rückwärts aus dem achten Stock in den Fluss stürzte. 

Der Schütze, ein wichtiger Boss der russischen Maffia, war entkommen. Ihre Leiche war nie gefunden worden. Man vermutete, dass die starke Strömung sie unmittelbar in das weite Meer getrieben hatte. Aber Glassner hatte es mit eigenen Augen gesehen. Seit Jahren suchte er nach dem Mörder. Er hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt. Immer enger hatten sich die Maschen um jenes Kartell und seine Drahtzieher gezogen; er wusste fast alles, konnte aber so gut wie gar nichts beweisen. So hatte er begonnen, seine Schlingen auszulegen und endlich war er ihm ins Netz gegangen. Wenn heute Abend alles über die Bühne ging, wäre es endgültig aus mit ihm. 

Nina könnte ihm von Hilfe sein! Andererseits hatte er sich geschworen, das alleine zu Ende zu bringen. Der Mann sollte ihm nicht noch einmal entkommen. 

Der Regen prasselte auf die Windschutzscheibe und die Scheibenwischer kamen kaum dagegen an. Das Licht der Straßenlaternen brach sich in tausend Strahlen in den Regentropfen.

„Arbeitest du immer noch heimlich an ...?“ Nina zögerte. Er sah sie an. Sie war immer eine gute Freundin seiner Frau gewesen. Sie würde mitmachen. Würde sie wirklich? Wenn es drauf ankam? In allerletzter Konsequenz? „Geht es darum?“, setzte Nina nach. „Ja“, hauchte er kaum hörbar. Er schaute sich um. Niemand sonst war auf der Straße. Niemand folgte ihnen. Fast immer folgte ihm jemand. Er konnte es spüren. Aber jetzt nicht. Das war gut so. Und Nina konnte er vertrauen. Aber würde sie wirklich ...?

„Ich komme mit!“, sagte Nina in einem Ton, als hätte sie das Sagen hier. Er begann zu schwitzen. Sie war der Typ Frau, bei der er schlecht nein sagen konnte. „Die Gegend ist ganz und gar nicht geheuer“, fügte sie hinzu und machte einen besorgten Blick. Sie hatte Recht. „Okay“, stimmte er zu. 

„Worum genau geht es?“

Er erklärte es ihr. 

Die dunklen Häuserzeilen zogen an ihnen vorbei. 

„Wohin genau müssen wir?“, fragte Nina. „De Senftergasse ist lang.“ 

„Nr. 238, das ehemalige Zollamt.“ Nina runzelte die Stirne und begann nervös in der linken Jackentasche zu fummeln. In der Ferne zuckten Blitze. Das Heulen des Windes war selbst im Wagen zu hören. 

„Hier! Hier hättest du abbiegen müssen!“, fuhr Glassner auf einmal auf. 

„Oh, verdammt“, sagte Nina. „Ich habe gepennt! So ein Mist, und hier ist Einbahnstraße!“ Glassner kochte. Nun müssten sie einen Umweg fahren. Wenn sie nun zu spät kamen ... In alter Gewohnheit schaute er sich erneut um, ob ihnen auch niemand folgte. Eisiges Schweigen erfüllte den Wagen, wodurch der Sturm noch lauter zu heulen schien.

Als sie schließlich ausstiegen, erfasste sie der eisige Wind und sie waren froh, als sie im Schutz des Hauseinganges standen. Er klingelte. Die Tür öffnete sich und sie wurden von einem breitschultrigen Individuum empfangen, das einen misstrauischen Blick auf Nina warf. „Sie gehört zu mir,“ sagte Gassner bestimmt und drängte sich an dem lebendigen Kleiderschrank vorbei. „Aber die bleibt draußen!“, protestierte der Schrank und stellte sich Nina in den Weg. „Von einer Frau war nicht die Rede!“ 

„Okay,“ meinte der Inspektor, „wenn’s dich glücklich macht, dann bleibt sie eben hier.“ Seine Hand glitt unscheinbar in die Manteltasche. „Dann geh du vor, und sag wo’s lang geht.“ Das Individuum brummte etwas in den Bart, kam aber nicht dazu, sich klarer auszudrücken oder irgendeinen Schritt zu tun. Wie ein Blitz durchzuckte und schüttelte es ihn und dann wurde er ohnmächtig. Glassner schaute bewundernd auf den Elektroschocker in seiner Hand, steckt in wieder ein und durchsuchte den Mann nach Waffen. So ein Esel, dachte er und schüttelte ungläubig den Kopf. Der hatte nicht einmal ein Schießeisen eingesteckt. 

Er ließ den Mann liegen und deutete Nina an, ihm zu folgen. Leise schlichen sie sich die Treppe hinauf, um zur richtigen Wohnung zu gelangen. Dort war es. Er musste sehen, dass er ihn überraschte. Die Türe stand einen Spalt weit offen; hoffentlich machte sie kein Geräusch. Er tastete nach seiner Pistole, konnte sie aber nicht finden. Verdammt. Auch das noch. Hilflos blickte er Nina an. Sie schüttelte verneinend den Kopf. Klar, dachte er, sie war ja nicht im Dienst gewesen. Wie hatte ihm das passieren können? Alles war einfach zu schnell gegangen. Also nahm er wieder den Elektroschocker. Er musste das Überraschungsmoment nutzen. Er riss die Tür auf und stand mit einem großen Satz mitten im Zimmer. – –

Irgendetwas stimmte hier nicht, stellte er noch fest, dann packten ihn acht kräftige Hände an Armen und Beinen. Sie schienen wie aus dem Nichts zu kommen. Der Elektroschocker polterte auf den Boden. Glassner sah noch, wie Nina eine Spritze aufzog, während ihn die Hände bewegungsunfähig fesselten. Er konnte sich nicht mehr wehren, als sie ihm die Droge einverleibte. Die Jacke, die sie ihm angelegt hatten, saß eng und sicher. Es dauerte nicht lange, bis er das Bewusstsein verlor. 

„Verflixt noch mal“, sagte einer der Männer und zeigte auf den Elektroschocker. „Wo hat der denn das Ding her?“ 

„Keine Ahnung,“ meinte Nina. „Auf einmal zog er es aus der Tasche und hat Greg außer Gefecht gesetzt.“ 

Die Männer klappten die Trage aus. Durch die Scheiben blinkte der blaue Schein des Notarztwagens, der ihn in die Psychiatrie bringen würde. 

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